Fotos: Olivia Pulver
«Hopp, an den Tisch 42!» Treppe runter. Lächeln aufsetzen und in den Garten treten. Am Tisch 31 Wasser nachschenken und fragen, ob es schmeckt. Danach wieder Treppe hoch, in die Küche zu Bernadette Lisibach. Sie ruft schon nach mir: «Hopp, Du kannst gleich das Tatar am Tisch 42 zubereiten!» In einer schwachen Minute letzten Winter habe ich der 17-Punkte-Starchefin versprochen, ihr einen Mittag lang im Service auszuhelfen. An einem warmen Junitag bin ich darum in Lömmenschwil und begleiche meine Schuld. Schon kurz nach 12 Uhr bin ich ziemlich durchgeschwitzt. Grosses Bild oben: Chef de Service Sandra Frei zeigt, wie man einen Tisch eindeckt; Bernadette Lisibach schaut zu.
Service als Nebenjob im Studium. Einige Stunden zuvor: Nach einem Begrüssungskaffee um 9.30 Uhr verrät mir die Küchenchefin in der «Neuen Blumenau», was sie sich für mich Besonderes hat einfallen lassen. Sie möchte ihren Gästen heute demonstrieren, wie künftig das Tatar zur Apérozeit (jeweils ab 17 Uhr) am Tisch zubereitet wird. Das könne ich machen, und zwar an allen Tischen. Selber schuld, denke ich, vielleicht hatte ich doch zu selbstsicher erklärt, dass ich während meiner Studienzeit mal gekellnert habe? Dass ich schon wisse, wie man Bestellungen aufnimmt oder wie man Teller trägt? Bloss war das meist in Gastlokalen und Spelunken, in denen man nicht mit weissen Stoffhandschuh und Tablett das blank polierte Silberbesteck zentimetergenau aufdeckt.
Tatar? Einfach 1 x zusehen. Von Chef de Service Sandra lerne ich, wie man korrekt ein Tischtuch mit dem sogenannten Scherengriff («Daumen oben!») auf der Tischfläche ausbreitet, ohne dass es knittert. Dass es zwischen Vorspeisen- und Hauptgang-Besteck höchstens Platz für eine Kreditkarte haben darf. Dass man die silbernen Untersetzer für die Weinflaschen nicht mit blossen Fingern hinstellt, weil es sonst Abdrücke gibt. Was mich aber interessieren würde: Wie geht das nachher mit dem Tatar am Tisch? Ich solle einfach einmal zusehen, werde ich beruhigt – dann würde ich das schon nachmachen können.
Bei Lisi gibt es Cervelat. Ich hätte nie gedacht, dass man um Viertel vor elf schon genug Appetit fürs Mittagessen haben kann. Nach bloss einer Stunde Arbeit. Doch ist dem so, und auch wenn es in diesem gediegenen Haus fürs Personal «nur» Cervelat mit Spiegelei, Kartoffeln und Spinat aus dem eigenen Garten gibt (hätten Sie vielleicht Filet erwartet?) – noch so gerne greife ich zu. Und freue mich übers Dessert, das neben jedem Teller liegt. Die Henkersmahlzeit, bevor es richtig hart zur Sache geht?
Fünf Snacks auswendig ansagen. Wenige Minuten vor Zwölf kommen die ersten Gäste. Mehrere Male ist es an mir, ein Aperobrättli an den Tisch zu balancieren. Die Schwierigkeit dabei: Das Holzbrett ist breiter als die Treppe, und die Suppenschälchen darauf wackeln… Am Tisch muss ich alle fünf Snacks vorstellen, was mir besser gelingt als erwartet: «Hier auf meiner Seite ist ein Tartelette mit Radieschen und Liebstöckelschaum. Daneben eine Spargelcremesuppe. Dann Schnittlauchdip, der mit dem hausgemachten Laugengebäck gegessen wird. Eine Tarte mit Spinat und Spiegelei. Zu guter Letzt geräucherte Wurst auf Ribelmais-Cracker.» Das klappt gut, bis jemand fragt, von welchem Metzger denn die Wurst komme. Ich vermeide es, mit dem kleinen gestreckten Finger auf die einzelnen Komponenten zu zeigen, weil ich das selber immer affektiert finde. Die Gäste erkennen sicherlich – gerade bei Lisibachs gradlinigem Kochstil –, was Suppe, was Ei, was Schaum ist.
Bin ich wirklich eine Hilfe? Einmal schaue ich Sandra über die Schulter, danach ist es an mir, gut ein halbes Dutzend Mal am Tisch besagtes Tatar zuzubereiten. «Darf es auch ein Schuss Cognac sein?» Fast alle bejahen, doch das Tatar entspricht meist beim ersten Probieren noch nicht ganz den Erwartungen: «Zu wenig scharf», das Urteil der Gäste. So, dass ich nochmals Chili, Sardellen und Pfeffer zufüge. Die aufwändigste Aufgabe kommt erst nach dem Nachwürzen: das Formen der Quenelles. Mit zwei Löffeln regelmässige Nocken zu formen, während der ganze Tisch zusieht, ist eine Herausforderung! Ich brauche vollste Konzentration und zehn Minuten pro Tisch. Vergesse das ganze Gartenrestaurant um mich herum. Und frage mich allmählich, ob ich wirklich eine grosse Hilfe für Sandra und ihre Kollegin Sara bin, die währenddessen Weine entkorken. Bestellungen aufnehmen. Erste Teller raustragen.
13:54 Uhr, 10'000 Schritte. Einige Male während dieses Mittags schaue ich auf die Uhr: Um 12.21 Uhr überkommt mich ein gewaltiger Durst, ich frage Sandra nach einem Glas Wasser. Um 13.06 Uhr will Kollegin Sara wissen, ob ich denn noch ein zweites Mal komme – dies werte ich als Lob. Um 13:54 Uhr piepst meine Fitnessuhr: Ich habe schon 10'000 Schritte gemacht. Der Kommentar von Bernadette Lisibach: «Fragt sich bloss, wie viel davon Leerläufe gewesen sind.» Im Gastgewerbe gilt offenbar noch immer: Bloss nie leer laufen! Um 14.41 Uhr traue ich mich, drei heisse Tellern gleichzeitig die Treppe runter zu tragen und zu servieren.
Zeit fürs Fazit? Noch nicht. Ich überstehe den Mittag. Anders als bei meinen Studentenjobs dauert er in einem Gourmetrestaurant nicht 90 Minuten, sondern über drei Stunden. Als es dann doch ruhiger wird, beginne ich, ein Fazit zu ziehen: Dass ich künftig noch mehr schätzen werde, wenn die Gläser in einem Speiselokal glänzen. Wenn Gabeln und Messer millimetergenau ausgerichtet worden sind. Wenn jemand Service am Tisch macht und etwa ein Stück Fleisch vor den Gästen flambiert… Bernadette Lisibach holt mich aus meinen Gedanken: «So, jetzt könntest Du eigentlich noch Besteck nachpolieren.» Jawohl, Chefin! Lächelnd schnappe ich mir ein Tuch, denn versprochen ist versprochen.