Fotos: Samuel Müller
Zwei Koteletts mehr, bitte. «De Schwiizer isst immer z wenig!» Das hat Friedrich Dürrenmatt mal vor laufender Kamera gesagt. Für einen Fernsehbeitrag hatte man ihm eine mordsmässig überladene Berner Platte hingestellt, die er mit der Frage quittierte, ob dies denn alles sei. Und dazu postwendend noch zwei Koteletts bestellte! Wie hätte ihm die kulinarische Hommage an ihn selbst gefallen, die zurzeit im Bieler Restaurant Du Bourg angeboten wird? Diese Frage stelle ich mir mehrmals, während des kurzweiligen Abends im Pop-up, das noch bis Ende April dauert. Für die Gäste gibt es ein sechsgängiges Dürrenmatt-Menü mit textlichen Intermezzos. Grosses Bild oben: Raphael Theiler, Mirjam Baumgartner, Severin Seiler.
Ein Abend für Gaumen & Geist. Mirjam Baumgartner und Severin Seiler haben das Menü zusammengestellt. Gemeinsam mit Raphael Theiler führen sie durch den Abend, der gespickt ist mit Querverweisen auf den berühmten Schweizer Denker, Dichter, Dramatiker und, gern geht das vergessen, Diabetiker. Die lose Gastro-Gruppe, die sich schon mit einem saisonalen Pop-up im Berggasthaus Splügenpass einen Namen gemacht hat, spricht zu Beginn von einem Abend, «der den Gaumen und den Geist berühren soll». Und da ich in meiner Jugend das Werk von Fritz Dürrenmatt geliebt habe wie sonst keines, setze ich mich mit viel Vorfreude an den Tisch: Würde es Suppe wie bei der Heilsarmee geben? Bürli à la Kronenhalle? Vielleicht einen grosszügig eingeschenkten Cognac am Ende? Oder eine Wurst, wie in jener Erzählung, in welcher ein Mann seine Gattin verwurstet und dafür vor dem höchsten Richter steht?
Gebeizte Forelle mit Quitten-Reduktion und Rettich-Rose.
Kärtchen mit Fotos und Zitaten ergänzen das Menü.
Chicorée mit Bohnen, Haselnüssen & Salzzitronen-Sauce.
Fernrohr aus Kohlrabi, Sternenkarte aus Reis. Beginnen tut der Abend in Biel jedenfalls mit Kleinigkeiten, die im Gewölbekeller des historischen Gebäudes serviert werden. Sie thematisieren Dürrenmatts Faszination für die Gestirne und den unendlichen Weltraum: Es sind ein Saturn aus zwei Hälften falscher Foie gras und Tonkabohnen-Sable in der Mitte. Ein Fernrohr aus Kohlrabi, gefüllt mit Meerrettich-Frischkäse. Und eine Sternenkarte aus schwarzem Reis und Agrumen-Tupfern. Originell, aber satt geworden wäre «Fritz» davon kaum.
Rettich wie bei Sisyphus. Bald kommt der Abend in Schwung wie eine gelungene Aufführung am Zürcher Schauspielhaus. Wenig später steht schon der nächste Gang auf dem Tisch: Gebeizte Forelle mit genialer Reduktion aus Quitte, Ingwer, Kressesaat und Kaffirlimette, von der die Zunge angenehm gekitzelt wird. Begleitet wird der Fisch von einer hübschen Blume aus mariniertem Rettichsalat – vom Gourmetkoch in liebevoller Kleinstarbeit geschaffen, vom Gast in Minutenschnelle verspeist. Die Pop-Up-Crew spannt damit den Bogen zu Sisyphus aus der griechischen Mythologe, den Dürrenmatt in Malerei und Text mehrfach als Motiv wählte. Die ersten beiden Weine aus der pointierten Getränkebegleitung kommen übrigens aus Twann am Bielersee. Dürrenmatt hat dort seine Erzählung «Der Richter und sein Henker» spielen lassen.
Der Job des Gourmetkochs ist oft Sisyphusarbeit.
Eng wie «Der Tunnel»: Küche des Restaurants Du Bourg.
Wäre Dürrenmatt der Kragen geplatzt? Chicorée wird auch in der Erzählung «Die Panne» verspeist. Ein gewisser Alfredo Traps tappt in eine Tischrunde, die mit ihm einen fiktiven Gerichtsprozess durchführt. Und ja, mir schmeckt der nachfolgende glasierte Chicorée mit Haselnüssen, weissen Bohnen und Salzzitronen-Kerbelsauce hervorragend. Allerdings beginne ich mich zu fragen, ob da «Fritz» nicht irgendwann der Kragen geplatzt wäre: Knäckebrot statt Bürli, so viel Gemüse und leichte Schweizer Weissweine? Man erinnert sich: «De Schwiizer isst immer z wenig!» Und als hätte das temporäre Du-Bourg-Team den Schriftsteller auf seiner Wolke auch gehört, kommt der Hauptgang: Berner Platte!
Endlich Berner Platte! Highlight: Rindszunge, versteckt unter Jus.
Zum Pastinaken-Dessert gab es Buttermilch-Hollunder-Sauce.
Mirjam Baumgartner sorgt für eine pointierte Weinbegleitung.
Bordeaux & Rindszunge. Ins Glas kommt endlich ein Bordeaux, der Lieblingswein Dürrenmatts. Er liebte es ja, seinen Gästen Weine ihres eigenen Jahrgang zu servieren: Château Margaux 1914, Château Pavie 1921... Damals waren diese Tropfen ja noch fast bezahlbar, sogar für einen Kulturschaffenden. Auf dem Teller? Eine Tranche Rindszunge, versteckt unter einem köstlichen Jus. Dazu Schweizer Dörrbohnen und ein Millefeuille aus – ich habe nachgezählt – mehr als zwanzig Schichten hauchdünner Kartoffeln auf Bärlauchcreme. Und weil Dürrenmatt ein Freund der Völlerei war, kommen in die Tischmitte Saucisson und Rippli mit angenehmer Rauchnote, dazu Seeländer Sauerkraut.
Autor Böniger war am Ende des Abends satt – und inspiriert.
Der weisse Portwein hatte fast die Farbe eines Cognacs.
Satt, zufrieden, inspiriert. Damit der Schweizer nicht zu wenig isst, servieren Mirjam Baumgartner, Severin Seiler und Raphael Theiler im folgenden noch einen tollen Käsegang mit warmem (!) Roquefortschaum und Birnen. Danach ein Dessert aus Pastinaken, als Cake, Chip und Glace mit Buttermilch-Hollundersauce. Begleitet von weissem Portwein, der im atmosphärischen Licht des Restaurants fast ein wenig an Cognac erinnert. Und auch wenn Friedrich Dürrenmatt im Folgenden wohl noch zwei Koteletts und weitere Flaschen französischen Rotwein bestellt hätte – meine Wenigkeit ist satt, zufrieden, inspiriert. Und ich fasse den Vorsatz, mir bald mal wieder «Der Tunnel», den Text meiner mündlichen Deutsch-Maturprüfung, zu Gemüte zu führen.
>> Bis 26. April. Reservationen und Infos unter www.du-bourg.ch