Text: Daniel Böniger I Fotos: François Wavre

Estragon statt Zitrusfrüchte. Spätestens nach 47 Minuten bin ich Hals über Kopf verliebt. Eine Tranche pochierte Felche, die in ihre Lamellen zerfällt, kommt mit einer Schwarzwurzel im Knuspermantel und Beurre blanc auf den Tisch, die mit clever eingesetzten Tropfen Estragonöl parfümiert wurde. «Ich mag die Anis-Säure von Estragon - gerade weil ich fast ohne Zitrusfrüchte koche», sagt Küchenchef Stéphane Décotterd. Dass das Kupferpfännchen zum Nachschöpfen auf dem Tisch stehen bleibt, ist nicht minder sympathisch.

Romands im Stress? Vor einigen Wochen hat Décotterd in seinem Restaurant in Glion, mit atemberaubendem Blick auf Montreux und den Genfersee, sein Amuse-bouche-Menu lanciert. «Bisher gab es nur ein eher kurzes Business Lunch und das ausführliche Degustationsmenu - ich möchte noch eine dritte Möglichkeit anbieten, was den Mittag zusätzlich beleben soll», sagt er. Und gibt zu, dass auch den Romands inzwischen über Mittag die nötige Musse ein wenig abhandengekommen sei. Fünfmal jährlich soll das Angebot der Saison angepasst werden, zudem verspricht Décotterd: In gerade mal 90 Minuten will er mit dem neuen Angebot zeigen, was er draufhat. Reicht dafür die Zeit?

Glion (Montreux), 22 février 2023. La darne de fera du Lac Léman, salsifis croustillant, jus tranché à l'estragon. Reportage sur le lunch experience "Le Menu Amuse-Bouche" proposé par le chef Stéphane Décotterd au restaurant Maison Décotterd installé au Glion Institute of Higher Education. ©François Wavre | Lundi13

Das schlägt den Bogen von der Küche zum Gast: Zur Felche gibts Schwarzwurzel im Knuspermantel.

Weissen gegen die Hemmungen. Der Mittag startet pünktlich um 12 Uhr mit einem kühlen Glas Saint-Saphorin, um die ersten Hemmungen fallen zu lassen. Dazu werden erste Häppchen gereicht («mit den Händen essen!»), die den Wein alles andere als erdrücken: ein knuspriges Tartelette mit Blumenkohlcreme, Rucola und frittierten Kapern; ein Kügelchen aus Safran-Brandteig mit Moutarde-de-Benichon-Füllung; ein Doppeldecker-Keks mit Greyerzer Doppelrahm und Käse.

Ist Cool-Jazz romantisch? Um 12.20 Uhr kommen ohne viel Firlefanz eine Scheibe Brot und gesalzene Butter auf den Tisch. Doch was sollte man mehr wollen, wenn die Brotkruste so knusprig und die Butter so dermassen milchig schmeckt? Bloss, ob der Hintergrundsound, «Hunting high and low» von A-ha in einer Cool-Jazz-Version, der Romantik wirklich zuträglich ist, kann bezweifelt werden.

Kribbelig im Bauch. Nach einem herrlichen Hüppe voller Forellentatar mit Kapuzinerkressecrème kommt 12.37 Uhr die zweite Vorspeise auf den Tisch: Obwohl sie kalt ist - mir wird es warm und kribbelig im Bauch angesichts eines rohen Crevettentatars mit gedämpfter Wasserkresse, zugedeckt von einem Randengelée. Etwas Joghurt hält die jodigen und frischen Aromen zusammen.
 

Glion (Montreux), 22 février 2023. La raviole crémeuse de "senne-fade", émulsion de châtaignes torréfiées. Reportage sur le lunch experience "Le Menu Amuse-Bouche" proposé par le chef Stéphane Décotterd au restaurant Maison Décotterd installé au Glion Institute of Higher Education. ©François Wavre | Lundi13

Kommt um 12:59 Uhr auf den Tisch: Raviolo mit Senneflade-Füllung und schwarzem Trüffel.

Kalbsmilke und Kopfsalatherz. Als ich die eingangs beschriebene Felche und ein Ravioli mit Sennefladefüllung und Trüffel verspeist habe, ist das Bauchgefühl nach wie vor prima. Aber ich beginne mir Sorgen zu machen, ob die Zeit unserer kulinarischen Begegnung nicht zu knapp berechnet ist. Ob da ganz stressfrei noch ein Hauptgang und ein Dessert hineinpassen? Zu einem Glas Merlot, ebenfalls aus der Region, kommt schon bald ein schiffchenförmiger Teller mit gebratener Kalbsmilke und grünen Gnochi, Blätter vom Kopfsalatherz und grüner Creme auf den Tisch. Grüne Creme? Salbei ist im Winter ein weiteres Lieblingskraut von Décotterd.

Der Kaviar kommt zum Schluss. Das Speed-Dating ist inzwischen in den letzten Minuten, und meine Wangen leicht gerötet. Genau um 13.31 Uhr kommt das Dessert von Christophe Loeffel (Patissier des Jahres 2021) auf den Tisch - eine Punktlandung. In einer Kaviardose serviert werden Kakao-Kaviar und Schokoladen-Ganache, unter denen marinierte Birnenstücke und ein Bisquit versteckt sind.

Ich will ihn wieder sehen. Dass man anschliessend für den Kaffee und die Friandises noch ein paar Minuten mehr in diese zauberhafte Mittagsbegegnung investieren muss - wer will sich davon die Laune verderben lassen? Ich weiss schon jetzt, dass ich mit Stephane Décotterd schon bald wieder das Vergnügen haben möchte!

 

www.maisondecotterd.com