Text: Isabel Notari | Fotos: Nik Hunger
Nach vielen Regentagen zeigt sich Engelberg OW von seiner schönsten Seite: grüne Wiesen, Wälder und strahlend blauer Himmel mit ein paar weissen Wolken, die verspielt am Titlis vorbeiziehen. Ein Prachttag in den Bergen – wie aus dem Bilderbuch! Geny Hess, 53, steht im Garten am Grill, regelt die Temperatur an zwei Big Green Eggs. Zu seinen Füssen liegt Bella Syrah, eine Bayerische Gebirgsschweisshündin und treue Jagdbegleiterin. Doch heute wird nicht gejagt, sondern gekocht. Der Weinspezialist bereitet ein mehrgängiges Menü auf den Green Eggs vor. Auf dem Programm: Gazpacho mit Hummerschwanz, in der Schale grilliert und mit Pistou abgeschmeckt, Loup de Mer in der Salzkruste mit Kräutergremolata, geschmorte Gamshaxe und grillierter Rehrücken mit Auberginenrisotto (das Gemüse wurde erst im Grill geschwärzt) und Rhabarbertarte mit Erdbeersorbet. «Den Hang zum Genuss und zu Wein habe ich schon als kleiner Bub von meinen Eltern eingeimpft bekommen», sagt der Präsident der GaultMillau-Weinjury, der im ehemaligen Engelberger Hotel Hess aufgewachsen ist. Doch erst absolvierte er eine Bank-, dann eine Kochlehre und hängte die Ausbildung in der Hotelfachschule Luzern dran. Heute ist der Engelberger ein Spezialist für Schweizer Weine und europäische Spitzengewächse, führt das Geschäft mit seiner Ehefrau Eliane, 54.
Geny Hess, wenn Sie kochen, steht zuerst der Wein fest oder das Gericht?
Sowohl als auch. Bei einer Degustation ist natürlich der Wein das Hauptthema, da versuche ich beim Gericht Süsse, Säure und Bitterstoffe in Harmonie mit dem Wein zu bringen. Dabei achte ich darauf, dass die Komponenten sich gegenseitig ergänzen und ein geschmackliches Zusammenspiel entsteht. Aber manchmal habe ich auch ein Nahrungsmittel im Kopf, das ich unbedingt verarbeiten will.
Sie haben erst Banker, dann Koch gelernt. Wie sind Sie zum Wein gekommen?
Das habe ich von zu Hause mitgekriegt. Mein Vater ist Koch und ein grosser Weinkenner. Wir wuchsen im Hotel auf, wo der Keller mit all den verstaubten Flaschen für mich schon als Kind ein mystischer Ort war. Das hat mich so fasziniert, dass ich bereits mit 16 Jahren meine ersten Subskriptionen Bordeaux mit Premier Cru tätigte. Mein ganzes Feriengeld ging dabei drauf. Das Sammeln hat mich seitdem nicht mehr losgelassen, es ist eine Leidenschaft.
Was bedeutet Ihnen denn Wein?
Das ist ein zentraler Teil unseres Lebens. Als Retailer im Weingeschäft haben Eliane und ich nicht nur eine geschäftliche Beziehung zu den Winzern, sondern auch Freundschaften entwickelt; wir laden einander regelmässig zum Essen und Degustieren ein. Für mich steckt hinter jedem Wein eine Geschichte, ein Leben. Jede Flasche erzählt von den Menschen, die sie mit Leidenschaft und Hingabe erschaffen haben.
Hess Selection führt das umfangreichste Sortiment an Schweizer Weinen.
Ja, meines Wissens ist das so. Wir führen zirka 75 Winzer und Weingüter – nur aus der Schweiz. Das ist enorm. Und wir besuchen die Winzer jedes Jahr.
Schweizer Weine sind seit Langem ein grosses Thema. Gibt es überhaupt noch Geheimtipps zu entdecken?
Aber ja! Das ist dem Generationenwechsel zu verdanken. Die jungen Winzer haben eine unglaubliche Leidenschaft für ihren Beruf, investieren viel Zeit und Energie in ihre Ausbildung. Sie besuchen renommierte Weinschulen, bereisen die Welt und sammeln wertvolle Erfahrungen in verschiedenen Weinregionen. Diese Vielfalt an Einflüssen bringen sie dann zurück in die Schweiz.
Dann gibt es keine schlechten Schweizer Weine mehr?
Heutzutage sind die Schweizer Weine generell von hoher Qualität. Die Weinproduzenten legen grossen Wert auf Qualität, niemand kann es sich mehr leisten, schlechten Wein herzustellen. In ganz Europa findet man Weine zu vernünftigen Preisen, aber auf einem sehr guten Niveau. Qualität ist gefragt.
Die Weinwelt hat sich verändert?
Ja, zum Glück. Die Konsumenten sind viel neugieriger geworden, immer auf der Suche nach Neuem, wollen genau wissen, was sie trinken. Das hat auch mit der digitalen Vernetzung zu tun. Schon bei der Weinbestellung im Restaurant ist zu beobachten, dass Gäste nach Bewertungen auf dem Handy suchen. Welchen Wein trinken Sie selbst gerne? Es sind unglaublich viele. Eigentlich ist es immer der, den ich gerade im Glas habe (lacht). Dabei gibt es auch viele Flaschen, die nicht mehr als 20 Franken kosten und enorm Spass machen.
Bei jungen Geniessern sind gerade die «Pétillant Naturel»-Weine total angesagt.
Es ist nicht einfach, sie richtig gut hinzubekommen. Nur weil der Wein sprudelt, bedeutet das nicht, dass er ein sensationeller «Pét Nat» ist, wie er abgekürzt heisst. Dennoch finde ich «Pétillant Naturel» faszinierend, da es sich um die ursprüngliche Tradition der Schaumweinherstellung handelt. T
Trinken Sie immer Wein zum Essen?
Oft. Allerdings haben Eliane und ich die Regel, dass wir an drei bis vier Tagen pro Woche auf Alkohol verzichten. Es sei denn, wir sind auf Degustationsreisen. Da kosten wir bis zu 80 Weine pro Tag. Am Wochenende aber geniessen wir. Zu Hause oder im Restaurant.
Stehen Sie oft am Grill?
Ja, sommers wie winters. Mit den Big Green Eggs ist das fantastisch. Aber für ein Menü mit mehreren Gängen muss man gut planen, da mit verschiedenen Temperaturen gearbeitet wird – es dauert eine Weile, bis sie heruntergefahren sind.
Also wären mehrere Big Eggs ideal?
Darum habe ich ja zwei – und bald drei (lacht). Aber mit einem funktioniert es natürlich auch. Man braucht einfach etwas mehr Geduld. Beim Niedergaren kann zusätzlich der Backofen helfen. Das angebratene Fleisch wird in den Ofen geschoben und vor dem Servieren noch einmal auf den Grill gelegt. So bleiben die aromatischen Grillnoten erhalten.
Nicht nur beim Wein, auch in der Küche ändern sich die Trends stetig.
Ja, die kulinarischen Trends entwickeln sich ständig weiter. Die heutigen Gerichte sind vielfach leichter, frischer, knackiger und gesünder. Ich finde diese stete Veränderung grossartig! Die verdanken wir den jungen Köchen, die neue Ideen und Techniken einbringen.
Sie scheinen viel von jungen Köchen und Winzern zu halten?
Sie sind der Schlüssel für alles Neue. Keiner kommt darum herum, von ihnen abzugucken. Sie haben sensationelle Ideen und verwirklichen sie auch. Obwohl ältere Köche eine Fülle an Erfahrung haben, ist es wichtig, der neuen Generation Raum zu geben, damit sie ihren eigenen Weg gehen kann. Sie ist weltoffen, reist viel, ist für neue Einflüsse empfänglich. Das beeindruckt mich sehr. Das gilt auch für junge Foodies.
Sie sind oft unterwegs und essen häufig in Restaurants. Wie wählen Sie die aus?
Guides wie GaultMillau oder Michelin sind unentbehrlich. Aber heisse Tipps hole ich mir auch bei Winzern, Köchen, Zulieferern wie ausgesuchten Metzgern oder Bäckern. Die wissen immer, wo es etwas Gutes zu essen gibt. Man muss einfach fragen.