Text: David Schnapp
Der Bundesrat hat am 6. Januar 2021 bekanntgegeben, dass er die Schliessung der Restaurants bis sicher Ende Februar verlängern will. Wie beurteilen Sie die Lage?
Rudi Bindella: Wir finden, dass solche Massnahmen zu einseitig auf zu wenige Branchen fokussiert sind. Und sie sind unverhältnismässig, weil kaum Belege für Ansteckungen existieren. Nur drei Prozent der Covid-Ansteckungen sind auf Restaurants zurückzuführen. In Läden oder im öffentlichen Verkehr sind die Leute deutlich enger beisammen. Und schliesslich finde ich den Umgang mit statistischen Daten gefährlich. Ständig Todeszahlen zu kommunizieren, ohne sie in einen Kontext zu stellen, bringt niemandem etwas und verbreitet nur Angst.
Was läuft aus Sicht des gastronomischen Unternehmers schief in der Schweizer Politik und der Bekämpfung der Corona-Krise?
Rudi Bindella: Das Schweizer Politsystem verlangsamt die Entscheidungen. Der Bundesrat muss Heerscharen von Beratern anhören, Kommissionen tagen, es braucht Vernehmlassungen… In einer Krise kann man so nicht führen, sondern muss hinstehen, entscheiden und dafür die Verantwortung übernehmen. Sonst passiert es eben, dass man Restaurants schliesst, aber die Entscheidung über finanzielle Hilfen auf später verschiebt, während es für viele Gastronomen um die Existenz geht.
Sie sind ein Freund der Kunst, leidenschaftlicher Musiker und formulieren gerne in Versform. Aber in dem offenen Brief an den Bundesrat, den Sie kürzlich als Inserat lanciert haben, wurden Sie auf freundliche Art sehr deutlich. Wie kam es dazu?
Rudi Bindella: Mein Gedanke war: «Es kann doch nicht sein, dass ein solches globales Problem auf dem Buckel von ein paar wenigen ausgetragen wird. Anfang 2020 konnte ich das noch verstehen, dass man in einer ersten schnellen Reaktion alles geschlossen hat. Aber dass man neun Monate später keine bessere Idee hat und nicht einmal bereit ist, den Schaden, den die Politik verursacht, zu decken, ist nicht nachvollziehbar.
Was stört Sie eigentlich mehr, die Schliessung an sich oder die fehlende finanzielle Unterstützung?
Rudi Bindella Jr.: Wir sind aus Leidenschaft Gastronomen und mit dieser Zwangsschliessung ist es für uns, unsere Mitarbeiter und auch für unsere Gäste sehr schwer. Und dass man ein faktisches Gewerbeverbot nicht entschädigt, finden wir befremdlich. Aber kein Missverständnis: Wir wollen vor allem für unsere Gäste da sein und uns nicht an staatlichen Hilfen bereichern. Aber wenn die Politik beschliesst, dass der Schutz der Gesundheit über allem steht, dann muss sie bereit sein, den Preis dafür zu bezahlen und wenigstens die Ausfälle kompensieren.
Aber als erfolgreiches gesundes Unternehmen können Sie ja eine vorübergehende Flaute gut überstehen.
Rudi Bindella: Natürlich haben wir Reserven, aber bei mehreren Monaten mit komplettem Umsatzausfall geht einem irgendwann die Luft aus. Nationalbankpräsident Thomas Jordan hat darauf hingewiesen, dass eine Gefahr dieser Krise ist, dass auch gesunde Unternehmen auf der Strecke bleiben könnten.
Haben Sie vom Bundesrat eine Antwort auf Ihren Brief erhalten?
Wir haben keine erhalten, aber auch keine erwartet. Immerhin wirft das Thema hohe Wellen. Die Medien nehmen es auf, der Zuspruch von Gästen und Kollegen ist überwältigend. Wir sprechen ja nicht für uns allein, sondern für eine ganze Branche, deren Artenvielfalt stark gefährdet ist.
Glauben Sie, als politisch denkender Mensch, eine solche gesundheitliche Krise lässt sich überhaupt mit den Mitteln der Politik lösen? Oder versucht die Politik Verantwortung für etwas zu übernehmen, was sie gar nicht verantworten kann?
Das Virus kann man mit einem Lockdown nicht vertreiben, man kann höchstens die Ansteckungen hinauszögern. Aus meiner Sicht lässt sich diese Krise nur lösen mit der Impfung und dem Schutz der vulnerablen Gruppen. Es ist immer so im Leben: Problemen kann man auf lange Sicht nicht davonrennen, sie holen einen immer ein.
Rudi Bindella Jr., Sie sind als VR-Delegierter für die Gastronomie im Unternehmen zuständig. Wie präsentiert sich die geschäftliche Lage?
Rudi Bindella Jr.: Wir haben im Sommer alles gemacht, um den Rahmenbedingungen zu genügen: Die Maskenpflicht haben wir vor der offiziellen Verordnung eingeführt, wir haben Plexiglaswände installiert und die aufwendige elektronische Erfassung der Gästedaten. In der ganzen Zeit hatten wir in 40 Betrieben schweizweit keinen Corona-Fall, der uns bekannt ist. Das ist es frustrierend, wenn einem erst mit der 19-Uhr-Regel das Abendgeschäft wegbricht und dann ganz geschlossen wird.
Hilft der Bilanz das Take-away-Geschäft und der Weinhandel?
Rudi Bindella Jr.: Wir haben zwar 2020 Home Delivery bei den «Santa Lucia»-Standorten lanciert, aber das ist kein Business, das sich lohnt. Im Weinhandel haben wir gut gearbeitet, aber er macht nur einen Teil unseres Umsatzes aus. Zwei Teile kommen aus der Gastronomie und deren Verluste wurden mit Weinverkauf nur leicht abgefedert.
Welche gesellschaftliche Rolle haben für Sie eigentlich Restaurants?
Rudi Bindella: Für mich entspricht ein Restaurant dem Bild, das ich vom Forum Romanum habe – dem Marktplatz im alten Rom, wo man sich getroffen und ausgetauscht hat. Das Restaurant ist ein wichtiger Begegnungsort, und was gibt es Schöneres, als miteinander zu Tisch zu sitzen? Das Versammlungs- und Begegnungsbedürfnis ist ein menschlicher Urinstinkt. Und langsam merken die Leute, was es bedeutet, wenn es einem fehlt.
Eine Folge der Krise ist ja, dass Menschen vor allem als Virenträger und soziale Orte wie Restaurants – als Ansteckungsorte wahrgenommen werden. Werden wir als Gesellschaft aus dieser Wahrnehmung langfristige Schäden davontragen?
Rudi Bindella: Der Bremsweg wird länger dauern, und die Bremsspuren werden noch für eine Weile sichtbar sind. Bis die Leute ihre Angst ablegen und wieder aus dem Kokon herauskommen, wird es noch dauern. Eine lockere Gefasstheit, die es im Leben braucht, erwarte ich nicht vor dem Jahr 2022.
Warum so pessimistisch?
Rudi Bindella: Man geht das Thema unverhältnismässig an. Wie gesagt: Ich glaube nicht, dass man vor einem Virus davonrennen kann. Für die meisten Menschen würde es reichen, wenn sie sich gut ernähren, ihr Immunsystem stärken, an die frische Luft gehen. Man kann einen kleinen Baum auch nicht ewig mit einem Pfahl stützen, sonst kann er nie allein im Wind stehen. Aber wir sind ein ängstliches Volk, dass sich gerne absichert und deshalb sind auch die Massnahmen unverhältnismässig. Man macht lieber zu viel als zu wenig.
In Ihrem offenen Brief weisen Sie auf die Schutzkonzepte in der Gastronomie hin, während der öffentliche Verkehr gleichzeitig ohne solche Konzepte und ohne Einschränkungen rollt. Ist Ihre Branche ein Bauernopfer?
Rudi Bindella: Wir haben in der Gastronomie ein hausgemachtes Problem. Die Branche hat sich zu wenig für die Politik interessiert. Unser Verband macht zwar gute Arbeit, aber es gibt im eidgenössischen Parlament keine Gastronomen, während die Interessen der Landwirtschaft oder Immobilienbranche übervertreten sind. Jetzt bezahlen wir einen hohen Preis dafür. Es getraut sich kaum noch jemand gegen diese Massnahmen zu sprechen, im Gegenteil: Alle wollen lieber noch mehr Massnahmen.
Haben Sie sich selber schon überlegt, in die Politik zu gehen?
Rudi Bindella: Ja, das habe ich tatsächlich und würde mich gern einbringen. Mit 72 habe ich eine gewisse Erfahrung, die sicher nützlich wäre. Aber gleichzeitig bin ich über das ideale Alter hinaus.
Welche Szenarien haben Sie entworfen, wenn Restaurants noch bis mindestens Ende Februar 2021 geschlossen bleiben?
Rudi Bindella: Wir hatten gehofft, dass im Frühling eine Normalisierung kommt, jetzt wird es mindestens Sommer. Im Moment sind wir froh um das Instrument der Kurzarbeit, aber es braucht wie gesagt mehr Unterstützung.
Man hört auch schon mal das Argument, es habe sowieso zu viel Kapazität in der Schweizer Gastronomie, eine Flurbereinigung sei gar nicht so schlimm. Stimmen Sie zu?
Das halte ich für ein gefährliches Argument. Die Schweiz ist in fast allen Branchen übersättigt, auch in der Bau- oder Beratungsbranche hat es zu viel Kapazitäten. Und es überleben ja nicht automatisch nur die Tüchtigen, sondern die mit eigenem Immobilienbesitz und Sachwerten. Gerade jüngere Gastronomen, die haben nicht so viele Reserven. Eine Flurbereinigung auf diese Weise wäre nicht gut für den sozialen Ausgleich und würde auch der Qualität der Gastronomie schaden.
>> Bindella ist das grösste gastronomische Familienunternehmen der Schweiz und betreibt 40 Restaurants und hat rund 1300 Angestellte. Zur Firma gehören auch ein Weinhandel, Immobilien und ein Gipsergeschäft. Rudi Bindella (geb. 1948) führt das Unternehmen seit 1977. Sein Sohn Rudi Jr. (geb. 1977) ist heute als VR-Delegierter verantwortlich für die Gastronomie.
Fotos: Olivia Pulver, HO, Geri Born