Interview: Knut Schwander

Der Tranchier-König mit dem «Adlerblick». Am 23. Dezember ist es so weit: Restaurant-Direktor Louis Villeneuve geht in den Ruhestand. Nach 46 Jahren, nach acht Jahren Dienst über das Pensionsalter hinaus. Monsieur Villeneuve war der Mann des Vertrauens von vier grossen Chefs: Frédy Girardet, Philippe Rochat, Benoît Violier und Franck Giovannini. Er hatte Respekt vor seinen Gästen. Und die Gäste auch vor ihm. Monsieur Villeneuve wachte mit seinem berühmten «Adlerblick» über den Service. Und keiner schnitt die Enten am Tisch so präzis und elegant wie er. Das Interview zum Abschied.

Girardet, Rochat, Viollier

Von links: Frédy Girardet, Philippe Rochat und Benoît Violier.

WIE WIRD MAN MONSIEUR VILLENEUVE?
Ich komme aus einer landwirtschaftlichen Familie. Meine Eltern hatten ein 50 Hektar großes Landgut in der Bretagne, und so habe ich mich an der Landwirtschaftsschule eingeschrieben. Aber mir wurde schnell klar, dass die Zukunft der Landwirtschaft für kleine Betriebe kompliziert sein würde. Also beschloss ich, eine andere Richtung einzuschlagen. Und meine Eltern, sehr moderne Eltern, nahmen uns immer in Restaurants mit. Ich entschied mich, in die Gastronomie zu gehen, verführt von dieser höflichen Welt.

Würden Sie es wieder tun?
Ohne zu zögern. Wir sind wie in einem Theater. Wir lernen, die Menschen und ihre Erwartungen zu spüren. In den 46 Jahren habe ich es genossen, die verschiedenen sozialen Schichten, diese Mischung von Menschen und den daraus resultierenden Dialog zu beobachten. In diesem Beruf hat man jeden Tag Spass und wirkt dabei sehr seriös.

UND WIE SIND SIE IN DIE SCHWEIZ GEKOMMEN?
Zwei Monate nachdem ich meine Lehre in einem Restaurant in Combourg begonnen hatte, erzählte mir ein Stammgast von der Ecole hôtelière in Lausanne. Ich wusste nicht einmal, wo diese Stadt liegt. Aber ich habe mich für die Schweiz interessiert. Und ich kam. Ich fand eine Stelle in Schönried. Dort erfuhr ich zwar, dass der Besitzer der Alpenrose, Monsieur von Siebenthal, bei einem Frédy Girardet in die Lehre gegangen war. Aber ich wusste noch nicht genau, wer das war.

SIE SIND TROTZDEM ZU FRÉDY GIRARDET NACH CRISSIER GEKOMMEN.
Bevor ich nach Crissier kam, habe ich im «Carlton» in Lausanne gearbeitet. Eines Tages bestellte ein holländischer Kunde, der das ganze Jahr über im Hotel wohnte, einen Salat. Also holte ich den Salatwagen und bereitete die Salatsauce am Tisch, vor seinen Augen zu.  Ich machte das zum ersten Mal und habe es wohl übertrieben. «Ich habe Sie um einen Salat gebeten, nicht um ein Schwimmbad», sagte der Gast. So läuft das bei uns im Job.

UND DANN CRISSIER?
1972 las ich einen Artikel in «La Tribune de Lausanne»: Christian Defaye beschrieb sein Essen in Crissier: «Le succès de la cuisine à 100 francs.» Das faszinierte mich und ich fuhr mit meinem Freund Michel Colin hin. Er wurde sofort angestellt, ich musste noch zwei Jahre warten. Aber am 17. Juni 1975 war ich dabei, als Christian Gault und Henry Millau Frédy Girardet den «Clé d'or» verliehen. Ich sah die Emotionen, den Stress...

Hot Ten Wild Franck Giovannini Crissier September 2021

Aktuell ist Franck Giovannini Chef im «Hôtel de Ville» in Crissier.

Hotel de Ville Crissier

Erstklassige Fine-Dining-Adresse: Das «Hôtel de Ville» in Crissier.

IHRE ERINNERUNGEN AN DIE ZEIT MIT FRÉDY GIRARDET?
Er ist ein grossartiger Mann, wirklich. Die Schweiz kann sich bei ihm bedanken. Es war faszinierend, ihn bei der Arbeit zu sehen. Auf dem Markt zum Beispiel, wo er die besten Produkte auf einen Blick erkennen konnte. Er setzte die besten Produkte auf die Speisekarte. Unsere Herausforderung im Service war es dann, diese Gerichte auch zu verkaufen. Das hat sich verändert. In Crissier gibt es die grosse Karte noch immer, in vielen Restaurants nicht mehr. Da konzentriert man sich auf ein einziges Menü

SIE SIND BEKANNT FÜR IHR UNERBITTLICHES AUGE.
Der stechende Blick funktioniert: Meine Mitarbeiter, aber auch der Gast, sieht, dass alles unter Kontrolle ist. Auch wenn ich den Service leite, heisst das noch lange nicht, dass ich nur zuschaue. Wenn es einen Teller gibt, der abgeräumt werden muss, packe ich an. Wichtig ist, dass sich der Kunde wohl fühlt.

VIELE MITARBEITER HABEN IN DEN ZEITEN VON COVID DEN BERUF GEWECHSELT.
Sie machen einen Fehler, viele von ihnen werden in einem neuen Job frustriert sein. Servicemitarbeiter ist ein Kontaktberuf. Man lernt sich auszudrücken, Botschafter der Küche zu sein. Es ist ein sehr schöner Beruf, und auch ein Commis kann gut verdienen.

LANGE ARBEITSZEITEN UND NIEDRIGE LÖHNE: MUSS DAS ÄNDERN?
Wir müssen den Rhythmus ändern und die Arbeitszeiten den Erwartungen der neuen Generationen anpassen. Aber für mich als einfachen Mann, als Angestellter, stimmt die Bilanz: ich geniesse eine aussergewöhnliche Anerkennung, die nur wenige Berufe bieten, und am Vorabend meiner Pensionierung kann ich Ihnen sagen, dass dies sehr wertvoll ist. Natürlich muss man manchmal die Zähne zusammenbeissen, aber das ist es wert, wenn man an einem Ort wie dem «Hôtel de Ville» respektiert und unterstützt wird.

WAS DENKEN SIE ÜBER DIE ZUKUNFT?
Nach sechsundvierzig glücklichen Jahren, acht Jahre über das Pensionsalter hinaus, kann ich es kaum glauben, dass es jetzt Zeit ist, in den Ruhestand zu gehen. Es wird ein sehr emotionaler Abschied. Jetzt möchte ich weitergeben, was ich gelernt und verstanden habe. Ich habe bereits Kurse für Hotelmanager gegeben. Ich denke auch an Tranchierkurse oder Seminare zum Thema Anstand. 

EINE LETZTE ANEKDOTE?
Es gibt Dutzende von ihnen. Aber ich werde mich immer an einen Gast erinnern, der uns in letzter Minute um einen Tisch bat. Das Restaurant war ausgebucht, aber wir haben alles getan, um ihm zwei Plätze zu besorgen. Als er in netter Begleitung ankam, sah er, dass seine Ehefrau an einem anderen Tisch sass. Natürlich ist er nicht geblieben. Dann gab es einen Stammgast, der sich fürchterlich aufregte, weil er für einmal im kleinen Saal sass und nicht im grossen. Aber wir waren ausgebucht! Monsieur Girardet empfahl mir, dem Kunden zu raten, doch wieder zu gehen. Eine heikle Aufgabe. Aber zu meiner Überraschung applaudierten die Gäste an den anderen Tischen, die die Szene miterlebt hatten. Ich sage Ihnen, dieses Geschäft ist wunderbar.

>> Fotos: Keystone, Pierre-Michel Delessert, Adrian Ehrbar, HO