Text: Kathia Baltisberger Fotos: Kurt Reichenbach
Im Dunkeln tappen. Engelberg OW, 5.30 Uhr, anfangs September. Ein klarer Sternenhimmel, Temperatur etwa 7 Grad. Geny Hess Junior sattelt seinen Rucksack und macht sich mit Hündin Bella auf. Die Jagd ruft. Hess ist Inhaber der Weinhandlung Hess Selections, gelernter Koch und Jäger aus Leidenschaft. An diesem Morgen will er auf die Hirschjagd. Bella, ein bayrischer Gebirgsschweisshund, geht voraus. Querfeldein. Der junge Jagdhund ist aufgeregt, aber trittsicher und kann sich im Dunkeln bestens orientieren. Bis zum Waldrand ist die Stirnlampe noch erlaubt. Dann wird’s zappenduster. «Es gibt einen schmalen Weg, man sieht ihn gut», erklärt Hess. «Weg» und «sehen» sind in Engelberg offenbar dehnbare Begriffe.
Keine natürlichen Feinde. Doch der Jäger behält Recht, die Augen gewöhnen sich ungemein schnell an die Dunkelheit. Sich so fortzubewegen ist notwendig. Denn: «Der Hirsch sieht unglaublich gut. Er hört dich und er riecht dich.» Der Hirsch breitet sich in der Schweiz aus, er hat hier keinen natürlichen Feind. Entsprechend mehr Jagd macht man auf ihn. Doch die Tiere sind schlau, passen sich der veränderten Situation an. «Hirsche sind sehr nachtaktiv, bewegen sich vermehrt im Dickicht und können sich stundenlang verstecken.» Doch auch Bella hat einen guten Spürsinn. Sie wittert ein paar Tiere weiter oben im Gelände. Es können aber genauso gut Murmeli wie Hirsche sein.
Gut getarnt. Nach etwa 30 Minuten Marsch gelangt Geny Hess zu seinem Sitz. Kein Hochsitz, sondern eine Vertiefung im Boden, von der man einen guten Blick über das Gelände hat. Hier nistet sich Hess ein. Bella kuschelt sich an ihr Herrchen. Ein paar Äste bilden einen kleinen Wall um den Sitz und geben dem Jäger noch etwas mehr Deckung. Mit seiner braunen Jacke und der braunen Mütze ist der Jäger quasi unsichtbar.
Geduld ist gefragt. Und jetzt heisst es: warten! Bei der Hirschjagd handelt es sich nämlich nicht um eine Pirsch-, sondern um eine Sitzjagd. «Ich sitze hier zwischen drei und vier Stunden. Man kommt total zur Ruhe, das hat schon fast etwas Meditatives», sagt Hess. Man hört die ersten Vögel zwitschern, das Rauschen der Bäche und Kuhglocken aus der Ferne. Er sei auch schon mal eingeschlafen. «Das kommt vor. Dann verpasst man halt vielleicht ein Tier. Aber ich habe ja keinen Zwang etwas zu schiessen.» Auch Bella wird ganz ruhig, schleckt nur ab und zu an Genys Fingern. Allmählich wird es Tag.
Vorgaben & Bussen. Geny Hess sucht das Gelände mit dem Feldstecher ab. Am Vorabend hat er zwei Hirsche gesichtet. Doch nur weil man etwas sieht, heisst das noch lange nicht, dass auch geschossen werden darf. «Sie waren etwa 250 Meter entfernt. Ich darf aber nur auf 200 Meter schiessen.» Für einen Abschuss gelten weitere Kriterien: Es braucht einen Kugelfang wie beispielsweise eine Felswand. Die meisten Schüsse sind Durchschüsse, der Jäger darf also nicht ins Leere schiessen. Genauso muss er schauen, ob der Hirsch einen Abhang hinunterstürzen könnte. Spiesser, also männliche Hirsche deren Geweih keine Ästelung aufweist, sind Tabu. Kapitalhirsche darf man pro Saison einen schiessen. Wer eine Hirschkuh mit Kalb trifft, kassiert eine Busse.
Jagd ist mehr als schiessen. Das Weidmannsglück ist Geny Hess an diesem Tag nicht hold. «Das ist egal. Für mich geht es nicht darum, unbedingt etwas schiessen zu müssen.» Auf dem Rückweg wird der Jäger zum Sammler: Hess pflückt Frauenmänteli und Blätter von wilden Himbeeren – daraus macht er dann Tee. Hess’ Philosophie bezüglich der Jagd lautet ohnehin: «Jagd ist das ganze Jahr. Es gehört viel mehr dazu als nur das Schiessen.» Die Natur erkunden, draussen sein, den Wald aufforsten, die Tiere studieren. Das hat Geny schon früh zu schätzen gelernt. Auch sein Vater Geny Hess Senior, Wein-Kolumnist und Präsident der GaultMillau Weinjury, war Jäger. Der wartet auch schon auf der Hütte und fragt: «Hattet ihr einen schönen Morgen?» Denn das ist es, was zählt und nicht das erlegte Tier.
Hacktätschli und Rücken. Ein ebenso wichtiger Bestandteil der Jagd: Das Leben auf der Jagdhütte. Geny Hess Sr., der Engelberger Wildhüter, ein Jäger und eine Jungjägerin haben sich für den Zmittag angemeldet. Die wissen, was sie Gutes erwartet. Geny Junior arbeitete bei Roland Pierroz in Verbier, bei André Jaeger in der «Fischerzunft» und machte eine Stage bei Frédy Girardet in Crissier. Das klingt vielversprechend, wenn auch die Hütten-Küche eine etwas andere ist. Hess Junior feuert den Herd ein, Hess Senior den Grill. Es gibt einen Gemsrücken und Gems-Hacktätschli gewürzt mit wildem Anis und Fenchelsamen, dazu Polenta aus den Terreni alla Maggia und Rosenkohl. Das Wild stammt noch vom letzten Jahr, das Fleisch lässt sich problemlos einfrieren. Ein Glück: Die Familie Hess ernährt sich in Sachen Fleisch praktisch nur noch vom eigenen Wild.