Text: Anita Lehmeier I Fotos: David Birri
ZEITSPRUNG AUF ZWEI KILOMETERN. Zwei Welten, die gleich nebeneinanderliegen und doch unterschiedlicher nicht sein könnten: Fährt man zur Melchsee-Frutt hoch, erwartet einen auf 1920 Metern über dem Meer und über dem Alltag das Universum des Frutt Mountain Resorts mit kühner Architektur, schickem Wellness-Hotel, edlem Spa, eleganten Restaurants, internationaler Gästeschar; der grosse Kempinski-Schick. Fährt man aus dieser zeitgemässen Luxus-Bubble heraus dem Melchsee entlang zum Tannensee, erwartet einen auf einem kurzen Abschnitt und für eine kurzen Moment lang – Schottland! See, Licht, Farben, sanfte, sattgrüne Hügel – so siehts exakt in den Highlands aus. Fehlt nur ein reitender Royal, eine Herde zotteliger Hochlandrinder oder der lange Hals von Nessi, der aus dem Wasser ragt. Fährt man noch ein Stück weiter bis zum verstreuten Bergdorf Tannalp, landet man wieder in einer anderen Welt und in einer anderen Zeit. Hier in der Käserei Tannalp von Arnold Bucher inmitten der hochalpinen Kulisse auf genau 2000 Höhenmeter wird gelebt und gekäst wie anno dazumal. Seit 1977 arbeitet der Obwaldner, der in Kerns eine Sbrinz AOP-Dorf-Käserei betreibt, sommers während sieben, acht Wochen hier, in einer der höchstgelegenen Käsereien der Schweiz und der höchstgelegenen Alp-Sbrinz-Käserei. Sein Vater hat sie 1976 erbaut, schon im zweiten Lehrjahr käste dann Arnold Junior im neu erbauten Betrieb Alp-Sbrinz AOP. Viel Moderne ist seither nicht dazugekommen, das macht die Käsi zu einer veritabeln Manufaktur. Die drei Kupferkessi mit je 1500 Litern Fassungsvermögen sind noch älter: Jahrgang 1909. Vater Arnold Bucher liess sie auf der Tannalp einbauen. Eingeheizt werden sie noch heute mit einem Holzofen, der den Dampf für die Kessi liefert. Vier Garretten Holz braucht es für die erforderliche Temperatur. Die erste Ladung Holz bekommt der Ofen um fünf Uhr morgens, dann geht’s los in der Käserei.
SECHS HÄNDE FÜR 4500 LITER MILCH – TÄGLICH! Auf der Tannalp wird täglich die Milch von rund 350 Kühen von 21 Bauernbetrieben verarbeitet, die auf der Frutt und bis runter zur Stöckalp sömmern. Es ist dieser Rohstoff, der die Basis bildet für den aromatisch einzigartigen Sbrinz AOP, es sind die vielen Kräuter, Gräser und Blumen, die vielgerühmte Artenvielfalt, die sich in der Milch niederschlägt. Für die Verarbeitung der 4500 Liter täglich hat Noldi Bucher vier helfende Hände: Sein Sohn Patrick, 27, und der Gehilfe Theodor Durrer aus Kerns, ein gelernter Bauer. Morgens und abends herrscht Hochbetrieb ums zweistöckige Haus, das neben Käsi auch Wohnhaus ist und Einkehr-Beiz für Wanderer und Biker. Die Bauern liefern zweimal täglich ihre Milch an, in Kannen mit 40 bis 50 Liter Inhalt. Sie kommen mit ihren 4x4-Subarus und Hürlimann- und Massey-Ferguson-Traktoren, auf dem steilen Strässchen rund ums Haus findet ein Ringelreihen an Nutzfahrzeugen statt, wie ein grosses Karussell. Die Bauern tragen die schweren Kannen in die Käsi, wo die Lieferung gewogen und die Menge fein säuberlich von Hand in eine A4-Liste eingetragen wird. Zur späteren Abrechnung Ende der Alpzeit. Die Lieferanten nutzen den Treff für einen kurzen Schwatz und einen Schnupf, den Austausch von Neuigkeiten übers Wetter, übers letzte Schwingfest, übers Tal, über die Welt. Manchmal ist in einem knappen Dialog alles gesagt: «Gahd äs?» «Sälber?» «Rächt!»
ERPROBTE CHOREOGRAFIE. Als erstes kommt die Milch durch eine knatternde Zentrifuge; auch der «Westfalia Separator» ist seit vielen Jahrzehnten in Dienst. Sie trennt den Rahm aus der Milch, die Nidel wird zum Teil verbuttert, für den Bedarf im Beizli, den Verkauf im Laden oben und dem Käserei-Geschäft im Tal. Für die drei Mannen beginnt nun die Arbeit am Sbrinz AOP, die so viel Muskelkraft, Erfahrung, Präzision und «Gschpüri» braucht. Die drei Schwerarbeiter in weissen, gummierten Käserschürzen führen in den nächsten Stunden ihre Choreografie um die Delikatesse auf, im dicken, weissen Dampf der Käsi. Die Kannen und Geräte scheppern, der Offen bullert, der Separator lärmt, die Männer arbeiten schweigend, jeder kennt jeden Handgriff. Einer des Trios ist ständig am Putzen, auch in einer Alpkäserei gelten strenge Hygienevorschriften. Ausdauernd zieht Noldi die Harfe geduldig durch den Bruch, bis perlenkleine Stücke entstanden sind. Der Bruch wird dann mit Käsetüchern von Hand aus dem Kessi gehoben und in die Formen, Järb genannt, gedrückt. Die geben dem Alp-Sbrinz AOP seine spätere Form. Mit den Unterarmen pressen die Käser die Molke aus der Masse, später übernehmen vier mechanische Pressen mit je 1,2 Tonnen Druck. Bis Mittag sind neun Laibe Sbrinz AOP gefertigt. Schon treffen die ersten Wanderer ein, bestellen Chässchnitten, Älpler-Magronen, Most und Joghurt, nehmen Platz auf den Bänken vor dem Haus, essen mit Genuss die hausgemachten Produkte bei Prachtsaussicht auf die Berner Alpen. Viele schauen auch eine Weile den Käsern beim Chrampfen zu. Oder kaufen im Lädeli bei Patrick ein. Sbrinz AOP in Möckli, gerieben oder an Stück, Kräutermutschli, Alpbutter, Chäswürste und Sbrinz-Trockenwürste. Die Käserei Tannalp liefert ihre Spezialitäten auch in die Gastronomie, hauptsächlich ins Frutt Mountain Resort, ins eigene Berggasthaus Tannalp und ins Posthaus. Ausserdem ins Lädeli Tutti Frutt. Alles, was Bucher Senior und Junior auf der Tannalp herstellen, gibt’s auch im Laden bei der Käserei in Kerns beim Kreisel zu kaufen.
MELKEN AUF DER ALPWEIDE. Wer die Übernachtungsmöglichkeit in der Käserei Tannalp nutzt (zwei Mehrbett-Zimmer, in denen es nach Milch und Bergluft duftet) und wer frühmorgens mit den Käsern aus den Federn kommt, kann ein besonderes Schauspiel erleben: das Weidemelken. Einige Bauern fahren zu ihren Kühen hoch und melken zum Sonnenaufgang in einem eigens errichteten Melkstand. In der Dämmerung unterwegs zu seinen Kühen ist zum Beispiel André Windlin aus Kerns OW, der seine 16 Kühe auf der Tannalp sömmert. Das Sennten (die Kuhgruppe) wartet schon beim Melkstand, dass ihr Chef eintrifft und sie gemolken werden. Der Bauer heizt als erstes den alten Wäscheofen ein, («für heisses Wasser zum Reinigen der Melkgeräte, Hygiene ist auch hier im Freien wichtig») und schaltet dann die Pumpe für die Melkmaschine ein. Zuerst werden die Zitzen mit Feuchttüchern gesäubert. Beim Melken gibts Streicheleinheiten und nette Worte ins Kuhohr geflüstert. Nach dem Melken folgt Wellness für die Euter, eine grüne Paste mit Sonnenschutz. Und Gläck! Bauer Windlin streut Salz auf Steinplatten und Felsen, das die Kühe mit Begeisterung auflecken. «Sie lieben das Salz, und sie brauchen die Mineralien darin», erklärt er. Und erzählt auch, warum eine Kuh abseitssteht, einen traurigen Blick hat und ein Portion Extraheu bekommt. Sie habe vor zwei Tagen ihr Kalb verloren, eine Totgeburt, im achten Monat. Bald trottet unter leisem Glockengebimmel die Herde davon, zerstreut sich auf der Suche nach feinen grünen Flecken. Bauer Windlin steht von Melkhocker auf, stellt die vollen Kannen ins Auto, schaut in die Ferne, wo die ersten Sonnenstrahlen die Schneegipfel rosa färben und meint: «Ferien? Verreisen? Brauche ich nicht. Dieser Anblick jeden Morgen entschädigt für alles. Für mich ist das Alpleben Ferien!»