Text: David Schnapp | Fotos: HO
Kochgeschichte. Es gibt eine Reihe von Erscheinungen im Kochbuchregal, welche die Qualität von Standartwerken für die Ewigkeit haben. Dazu gehört etwa der «Kochkunstführer» von Auguste Escoffier, die «Grandes Livres de Cuisine» von Alain Ducasse, der «El Bulli Catalogue» und aus jüngerer Zeit insbesondere «Mondernist Cuisine». Mit diesem im Wortsinn gewichtigen Werk über die moderne Küchentechnik in fünf Bänden und auf Hunderten Seiten hat der frühere Chief Technology Officer von Microsoft, Nathan Myhrvold, als Herausgeber und Co-Autor buchstäblich Kochgeschichte geschrieben.
Quantentheorie und Pizza. Es folgte ein ebenso umfangreiches und umfassendes Werk über Brot und schliesslich das dreibändige «Modernist Pizza», das nun auch in einer deutschen Ausgabe vorliegt. «In einem Paralleluniversum wäre ich vielleicht Koch oder Bäcker geworden. Stattdessen tauchte ich tief in die Naturwissenschaften ein. Mit 14 ging ich aufs College und verschlang Mathematik- und Physikbücher. Als ich mit 23 fertig war, hatte ich einen Doktortitel in mathematischer Physik. Anschliessend wurde ich Postdoktorand an der University of Cambridge und arbeitete mit Dr. Stephen Hawking an der Quantentheorie», schreibt Myhrvold im Vorwort zu «Modernist Pizza» und zeigt damit gleich, aus welchem Universum er kommt, und welches sein Ansatz ist. Die «Modernist»-Bücher gehen den Dingen auf den Grund, kaum eine Frage bleibt unbeantwortet, nur wenige naturwissenschaftliche Phänomene des Kochens und Backens bleiben unerklärt, aber auch kulturelle und historische Aspekte des Essens werden sorgfältig behandelt.
Liebe zum Essen. «Modernist Pizza» gebe es letztlich, weil er Essen und Wissenschaft liebe, sagt Nathan Myhrvold, und diese Herangehensweise führt in all den «Modernist»-Büchern zu einer Themen-Tiefe und einem Detailreichtum, die unerreicht sind. Im Falle der Pizza-Bibel ist es unter anderem die Auseinandersetzung mit Mehlen, Knettechniken und natürlich den verschiedenen Pizza-Arten – von der brasilianischen Thin-Crust-Pizza bis zur weltbekannten Pizza Napoletana.
Variantenreichtum. Die Rezepte sind wie gewohnt sehr akkurat und abwechslungsreich. Für die Napoletana etwa gibt es eine Reihe von Anwendungen, bei denen zum Beispiel eine kleine Menge Fleischzartmacher eingesetzt wird, womit sich der Teig besser entspannt und leichter wirken lässt. Pizza Napoletana mit Poolish (Vorteig) oder aus hellem Roggenmehl findet sich ebenso eine Anleitung wie für Pizza al Taglio, die mit einer Kombination aus flüssigem Sauerteig und Instant-Trockenhefe gemacht wird. Insgesamt wird zwischen 17 verschiedenen Grund-Pizza-Arten unterschieden, wobei es zusätzliche Kombinationen von Rezepten gibt – etwa für Flammkuchen. Glutenfreie Teige sind ebenso erklärt wie Vorschläge für verschiedene Pürees, die an Stelle einer traditionellen Tomatensauce verwendet werden, etwa aus grilliertem Mais oder druckkaramellisierten Shitake-Pilzen.
Präzise erklärt. Die Tomatensauce selbst nimmt in «Modernist Pizza» viel Raum ein, auch die Probleme, die durch zu viel, zu wässriger oder verbrannter Sauce beim Backen entstehen können, werden erklärt. Die Rezeptfülle ist auch für diesen Aspekt der Pizza-Herstellung umfassend: Ob eine Sauce aus Dosentomaten, die nur mit Salz gewürzt und mit etwas Xanthan gebunden wird, ein Belag aus ofengerösteten, frischen oder fermentierten Tomaten, Pesto oder Bechamel als Pizza-Grundlage und viele weitere Ideen werden im typischen «Modernist»-Stil mit tabellarischen Rezepten, die immer mit einer Skalierung für den professionellen Einsatz versehen sind, präzise erklärt.
Anspruch auf Vollständigkeit. Der Charme der «Modernist»-Enzyklopädien ist nicht zuletzt dieser, fast etwas verschrobene Anspruch auf Vollständigkeit. Vielleicht drückt hier Nathan Myhrvolds Seite eines Tech-Nerds durch, der es ganz genau nimmt, und wo in Rezepten gerne mal mit Zehntel-Gramm-Einheiten gearbeitet wird, falls es die Präzision erfordert. Die thematische Breite und der Anwendungsreichtum sind letztlich aber auch der Grund dafür, dass wirklich jeder, der das Thema Pizza etwas vertiefter angehen will, in den drei Bänden mit über 1700 Seiten und mehr als 1000 Rezepten genau den Aspekt erklärt findet, der ihn besonders interessiert.