Text: David Schnapp
Koch erbt abgebranntes Lokal. Die zweite Staffel der amerikanischen Fernsehserie «The Bear – King of the Kitchen», die auf Disney+ gestreamt werden kann, gehört zum Besten, was zum weiten Thema Gastronomie in jüngerer Zeit an Bildschirm-Fiktion gedreht worden ist. Der Inhalt lässt sich in einer Kurzfassung so erklären: Der junge Koch Carmen «Carmy» Berzatto («The Bear», hervorragend gespielt von Jeremy Allen White, grosses Bild oben) erbt nach dem Selbstmord seines älteren Bruders das abgebrannte Sandwich-Lokal seiner Familie. Er kehrt nach Stationen in Kopenhagen («Noma») oder New York («Eleven Madison Park») nach Chicago zurück, und in der Folge geht es um Familientraumata, widerspenstiges Personal, die Krise der Restaurants im Allgemeinen und nicht zuletzt um Exzellenz in der Küche.
«EMP überall präsent.» Mit der Welt der gehobenen Küche vertraute Zuseher erkennen dabei schnell, dass das Drei-Sterne-Restaurant «Eleven Madison Park» (EMP) des Schweizer Starchefs Daniel Humm eine wichtige Inspirationsquelle für die Serie des Regisseurs, Autors und Produzenten Christopher Storer ist. Dessen Schwester Courtney ist selbst Köchin und hat ihren Bruder für die Dreharbeiten kulinarisch beraten. Daniel Humm wiederum hat die beiden bisher veröffentlichten Staffeln gesehen und sagt, das «‹Eleven Madison Park› ist überall in dieser Serie präsent.»
Punkte statt Sandwiches. Chef «Carmy» schickt beispielsweise kurz vor der Wiedereröffnung seines renovierten Lokals, in dem er nun statt Sandwiches gehobenes Essen auf Punkte- oder Sterne-Niveau servieren will, seinen wenig motivierten Mitarbeiter und Freund Richard Jerimovich (gespielt von Ebon Moss-Bachrach) für ein Praktikum in das fiktive Drei-Sterne-Restaurant «Ever». Dort muss «Richie» tagelang Besteck polieren, was er zunächst als Demütigung empfindet, bis er nach einer Standpauke eines Kollegen erkennt, dass es für ihn vielmehr darum geht, zu erleben, was wahre Leidenschaft für das Restaurant-Business bedeutet. Und dass es dabei vor allem um die hingebungsvolle Beschäftigung mit scheinbar nebensächlichen Details geht, wenn man zu den Besten gehören will.
Humm: «EMP ist überall.» Als übergeordnetes Motto für die Arbeit im «Ever» hängt ein Schild mit den Worten «Every Second Counts» an der Küchenwand. Es erinnert an Daniel Humms mittlerweile weltberühmtes «Make it nice». Im «Eleven Madison Park» hängen diese drei Worte nicht nur als präsentes Motto an verschiedenen Wänden, sie sind auch der Name seiner Firma und ein bestimmendes Leitmotiv. Auch viele andere Momente sind «very EMP». Daniel Humm sagt, «man spürt unser Restaurant überall in dieser Serie». Szenen aus «The Bear» gleichen beispielsweise erstaunlich genau Momenten aus der Netflix-Dokumentation «7 Days out» von 2018. Dort wird die Wiedereröffnung nach einer Rennovation des «EMP» dokumentiert. Und das berühmte Granola, das Gäste seit vielen Jahren als Andenken an ihren Besuch in Humms Restaurant nach Hause nehmen können, taucht auch in «The Bear» auf.
Den Gästen zuhören. Eine weitere Parallele: Die Serviceleute im fiktiven Serien-Restaurant «Ever» werden darin geschult, den Gästen aufmerksam zuzuhören, um heimliche Wünsche zu erfahren. Als jemand erzählt, dass dies sein letzter Abend in Chicago sei, und dass er bedauerlicherweise nicht dazu gekommen sei, die für die Stadt typische «Deep Dish Stuffed Pizza» zu essen, rennt «Richie» los, um eine Pizza zu besorgen und die Gäste damit zu überraschen. Auch dies ist eine Idee, die im «Eleven Madison Park» seit langem praktiziert wird. Dort werden neue Gäste «gegoogelt», um besser auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Und so genannte «Dream Waver» erfüllen beiläufig geäusserte Wünsche oder sorgen für Überraschungen, welche den Besuch im «Eleven Madison Park» unvergesslich machen: Indem sie das Lieblingsbier eines Gastes besorgen, oder ihm eine von Hand gemalte Übersichtskarte mit empfehlenswerten Burger-Restaurant Manhattans überreichen. Nur, weil er erwähnt hat, dass ihn die Frage umtreibt, wo es in New York den besten Burger gebe.
Ein Restaurant ist Popkultur. Dass er offensichtlich eine ergiebige Inspirationsquelle für die Disney-Produktion war, war für Daniel Humm zunächst nicht eindeutig einzuschätzen: «Ich wusste nicht, wie ich darüber denken sollte; ob das jetzt positiv für uns ist oder eben nicht», sagt er. «Aber es ist klar ersichtlich, dass wir mit unserem Restaurant die Populärkultur beeinflussen. So gesehen sind wir Teil des Zeitgeistes, und das scheint mit insgesamt sehr positiv zu sein», so Humm.
Blick in Abgründe. «The Bear» ist zum einen die mitreissend erzählte Geschichte eines talentierten Kochs, der sich plötzlich in der Pflicht sieht, den heruntergekommenen Familienbetrieb zu retten. Zum anderen machen den Reiz der Serie aber auch die brillant erzählten – und gespielten – Geschichten der einzelnen Figuren mit ihren unterschiedlichen Schicksalen aus. Da ist Marcus, der bisherige Bäcker im Sandwich-Laden, der während einer Stage in Kopenhagen sein Talent für die Patisserie entdeckt. Oder Sydney «Syd» Adamu (gespielt von Ayo Edebiri), die als Sous-Chefin von Chef «Carmy» die Ideen für das neue Menü entwickeln soll. Sie kämpft mit Selbstzweifeln und will ihren Vater davon überzeugen, dass Köchin zu sein ihr wirklich alles bedeutet. Auch die Hauptfigur selbst blickt immer wieder in Abgründe: Wenn es um die Familie, die Mitarbeiter, die Behörden und vor allem um sich selbst geht. Das ist nicht nur packend und berührend, es wirkt auch auf eklatante Weise sehr lebensnah – sowohl was die einzelnen Charaktere als auch, was die Gastronomie als faszinierende und herausfordernde Branche angeht.