Text: Daniel Böniger I Fotos: Fabian Häfeli

Die Kiste kommt – und Freude herrscht. Da ist Chef Mike Wehrle natürlich höchstpersönlich dabei. Schliesslich ist es ein Moment höchster Spannung im Bürgenstock Resort, als die Klebestreifen von der riesigen Styroporkiste entfernt und deren Deckel geöffnet werden: Zum Vorschein kommt ein auf Eis gelegter, rund 110 Kilogramm schwerer Thunfisch. Er glänzt verführerisch, und ganze sechs Mann sind jetzt gefragt, um das Tier aus der Box und auf den Tisch zu hieven. Die Schwanzflosse ist bereits abgetrennt, der Kiste aber beigelegt. Ebenso wie das Zertifikat, das der Culinary Director, sichtlich erfreut über die Lieferung, nun als nächstes zur Hand nimmt. Darauf nachzulesen sind Angaben zur Länge («188 cm»), zum Fettanteil («6,9 Prozent») und zur Herkunft («Balearic Sea»). Den Fisch zerlegen wird die Köchin für japanische Spezialitäten des Restaurants Spices, Janet Lopez, die ihre Sporen bei der Nobu-Kette abverdient hat. Gute drei Stunden braucht sie dafür. 

Im Wasser bis zur Bestellung. Die Firma Balfego, die den Blauflossenthunfisch geliefert hat, setzt auf ein besonderes Verfahren: Tuna-Schwärme werden rund um die Meerenge von Gibraltar mittels Helikopter geortet. Mit riesigen Netzen (und ohne Beifang) treibt man sie stressfrei mit tiefer Geschwindigkeit von etwa einer Meile pro Stunde zu den 60 Meter tiefen «Farming Nets» bei Taragona. Weil die Tiere zum Laichen lange Schwimmstrecken hinter sich gebracht haben, müssen sie dort erst wieder aufgepäppelt werden. Gefüttert werden sie dafür ausschliesslich mit ganzen Fischen. Erst wenn die Bestellung von Mike Wehrle bei Balfego auf dem Tisch liegt, sucht ein Taucher ein passendes Exemplar aus, das dann mit Harpune erlegt und mit dem Schiff an die Küste verfrachtet wird. Ungefähr viermal jährlich wird vom Bürgenstock eine solche Bestellung getätigt. 

Handroll mit Tuna

Eingetütet: Handroll mit Balfego.

Birdy's by Jeron Achtien

Pikant: Spicy Tuna Salad.

Tuna mit Seeigel.

Filigran: Tuna mit Seeigel.

Scharfe Messer - aber auch Löffel. Janet Lopez vermisst den ungefähr acht- bis zehnjährigen Fisch immer wieder mit den Händen, um genau zu wissen, wo sie ihre scharfen Messer ansetzen muss. Um möglichst verlustfrei an so edle Stücke wie den Otoro oder den Chutoro zu gelangen. Ganz offensichtlich braucht das Zerteilen viel Kraft: Als es darum geht, das Fleisch neben den Kiemen herauszutrennen, geht ihr Mike Wehrle mit einem Hackbeil zur Hilfe. Auch er braucht mehrere Schläge. Bald schon hat der Küchenchef feine Schweissperlen auf der Stirn. Viel leichter scheint es zu sein, das tiefrote Fleisch rund um die Knochen abzukratzen - das tun beide mit nichts mehr als einem Löffel. Das kleinteilige Fleisch mache sich als Spicy Tuna in den beliebten Inside-Out-Rolls (Uramaki) besonders gut, sagt Wehrle. 
 

Besonders seltene Stücke. Wer das ganze Tier bestellt, kommt in den Genuss einiger Stücke, die bei normalen Lieferungen nie dabei sind: Dazu gehören die bereits erwähnten Kiemenstücke, die ohne grosse Vorbereitung (Salz & Pfeffer, that’s it!) auf den Holzkohlegrill gelegt werden können. Das Fleisch ist so fetthaltig, dass es fast ununterbrochen in die Glut tropft. Obwohl es erst Februar ist, raucht es schon mal kräftig auf der Terrasse des Bürgenstock… Oder, vielleicht etwas gewöhnungsbedürftiger,  die zifferblatt-grossen Augen, mit denen eine besonders protein- und colagenhaltige Suppe gekocht werden kann: «Es braucht dazu nur Frühlingszwiebeln, etwas Misopaste und passendes Gemüse», weiss Janet Lopez.  

Beim Zerteilen gehen Mike Wehrle und Janet Lopez einander zur Hand.

Drei Stunden Arbeit: Beim Zerteilen gehen Mike Wehrle und Janet Lopez einander zur Hand.

Rund 50 Kilo Fleisch. Für Geniesser, die nicht mit der asiatischen Kochtradition aufgewachsen sind, dürften die «Bäggli» von beachtlicher Grösse wohl eher eine Delikatesse darstellen: Sie müssen bloss ein wenig abgeflämmt werden. Wer an diesem Abend am Chef’s Table im Spices sitzen wird, dürfte sich gehörig über diese köstliche kulinarische Rarität freuen. Dort werden im selben Rahmen auch die winzig kleinen Fleischstücke rund um die Wirbelsäule zum Einsatz kommen - als besonders edles Nigiri-Sushi. Insgesamt können vom ganzen Fisch so runde 50 Kilo Fleisch verwendet werden, der Grossteil davon wird bei minus 60 Grad in passenden Stücken schockgefroren - und in den kommenden Wochen zu Tataki oder Sashimi weiterverarbeitet. Übrigens werden auch die Knochen ausgekocht, was eine würzige «Street Style Broth» ergebe, so Janet Lopez. 

Frisch und pikant zugleich: Thai-Salad. Die Frau hat Schwerstarbeit geleistet, so dass nun Vilai Kanjan übernimmt, eine der beiden Chef-Zwillinge im Spices. Sie bereitet aus dem frischen Fisch, der vor gut 36 Stunden noch im Meer geschwommen hat, einen thailändischen Tuna Salad zu: Dafür brät sie Würfel aus der Lende scharf an und würzt sie mit einem vorbereiteten Mix, der unter anderem Kaffirlimette, Minze, Chilipaste und hauchdünn geschnittenes Zitronengras enthält. Hinzu kommt eine Sauce aus gleichen Teilen Limettensaft, Palmzucker und Fischsauce; zudem Knoblauch und Korianderwurzel. Wie frisch und pikant, wie komplex und trotzdem abgerundet das am Ende schmeckt, ist verblüffend. Und man muss ihr aus vollem Herzen zustimmen, als sie begeistert sagt: «I love to work with fresh ingredients!»