Fotos: David Birri
Trendwende nach Corona. Seit einiger Zeit befindet sich Grindelwald mit der beeindruckenden Alpenkulisse von Wetterhorn, Eigernordwand oder Jungfrau auf einer Fahrt nach oben. Der Aufschwung hat zunächst viel zu tun mit Urs Kessler, dem langjährigen CEO der Jungfraubahnen. Dazu ist, kulinarisch gesehen, nach Jahren der eher bescheidenen Genüsse, nach viel Fondue, Rösti und Geschnetzeltem, eine Trendwende zu beobachten. Ein Grund dafür sei die Corona-Krise, wie wir auf den Rundgängen durch den Ort hören. «Das Ausbleiben grosser Gästegruppen aus Indien oder China hat Hoteliers und Gastronomen gezwungen, sich neu zu orientieren», sagt Myriam Kaufmann, die in verschiedenen Hotels im Dorf gearbeitet hat.
Schweizer Gäste im Fokus. Sie ist heute Gastgeberin im heimeligen «Café 3692» mit Terrassen-Panoramablick und führt das Bistro seit zehn Jahren zusammen mit ihrem Mann Bruno. In der Küche steht der gebürtige Rostocker Tilo Amft. Er verarbeitet ganze Steinböcke oder Hirsche, welche die lokalen Jäger erlegen, und schreibt jeden Tag ein neues Menü auf die Schiefertafel. Es ist keine ganz grosse Küche, man pflegt dafür solides Handwerk und herzliche Gastgeberkultur. Durch die Krise, davon ist Myriam Kaufmann überzeugt, sei der einzelne Gast – nicht zuletzt aus der Schweiz – wieder in den Fokus von Hoteliers und Gastronomen gerückt. Hinzu kommt, dass eine neue Generation Köche und Hoteliers die Anziehungskraft von Grindelwald entdeckt hat.
Der Aufstieg der Quereinsteiger. Einen Anfang machten die Quereinsteiger Justine und Jan Pyott. Das sportliche Paar – sie ist Basejumperin, er gehörte lange zur Triathlon-Weltelite – übernahm 2017 das traditionsreiche Hotel Glacier mit Eiger-Nordwand-Blick und baute es aufwendig zum Boutiquehotel um. Geholfen hat bei diesem – durchaus abenteuerlichen – Aufstieg der unbeschwerte Aussenblick des engagierten Unternehmerpaars. Viele Betriebe in Grindelwald werden seit Generationen von tief im Dorfgeschehen verwurzelten Hotelier-Familiendynastien geführt. Die Pyotts hingegen konnten unbelastet von Traditionen machen, was sie für richtig hielten. «Fine Dining», sagt Justine Pyott deshalb auch mit gutgelaunter Offenheit, «betreibt man nicht, um viel Geld zu verdienen, sondern aus Leidenschaft und Freude an gutem Essen.» Die beiden Chefs Paul Cabayé und Stephanie Zosso, die auch privat ein Paar sind, bekommen deshalb «eine Carte Blanche» für ihre Arbeit. Das Resultat ist eine feinsinnige Regionalküche mit Raffinement und hohem ästhetischem Anspruch.
Die nächste Generation. Für den kulinarischen Aufschwung gibt es eine dritte wichtige Komponente: In Häusern wie dem «Belvedere» hat die nächste Generation von Hoteliers das Zepter übernommen. Die Familie Hauser ist seit 1907 im Geschäft mit Gästen. Nun steht mit den Geschwistern Philip und Carole sowie ihrer Tante Susanne Hauser die vierte Generation der Hausers in der Verantwortung und macht das Traditionshotel fit für die Zukunft. Ein Element der Strategie ist das jüngst eröffnete «1910 – Gourmet by Hausers» (15 Punkte im GaultMillau, ein Michelin-Stern). Dafür verantwortlich ist der 35-jährige Executive Chef des Hauses, Dávid Rózsa, zusammen mit seinem Kollegen José Eduardo Cunha. Das Duo mit ungarischen respektive portugiesischen Wurzeln kombiniert klassische Küche mit Ideen der Nordic Cuisine zu faszinierenden Ergebnissen: Randensphären, trockengereifter Zander mit einer Dashi auf Basis der Zanderknochen oder ein Kalbsjus mit fermentierten Kastanien zu in Palmkohl eingerolltem Kalbshackfleisch gehören zu den Höhepunkten des Wintermenüs.
Auftrag erfüllt. Für Dávid Rózsa hat die Tatsache, dass die talentierten Köche in anderen Häusern im Dorf sich ebenfalls guter Küche verpflichtet fühlen, eine belebende Wirkung. «Motivierte Kollegen um sich zu haben, motiviert einen selbst», sagt er. Nur ein paar Schritte entfernt, im Romantikhotel Schweizerhof, hat der 33-jährige Deutsche Markus Handau den Auftrag der Hoteldirektion erfüllt: Er hat die Karten der fünf verschiedenen Restaurants umgeschrieben und aus der holzgetäferten «Schmitte» eine Gourmetadresse mit 14 GautMillau-Punkten gemacht. Noch bis Ende März 2024 bleibt Handau im «Schweizerhof», danach will er sich auf kulinarische Weltreise begeben, wie er sagt.
«Papi» Urs Gschwend. Unterwegs auf unserer kleinen Reise durch das Grindelwald-Universum, treffen wir Urs Gschwend, den neuen Küchenchef im Hotel Bergwelt. Der 57-Jährige bezeichnet sich selbst als «Papi im Dorf». Damit meint er seine Rolle im Verbund der weitaus jüngeren Kollegen. Denn auch das gehört zur neuen Realität im Ort: Die neue Generation von Spitzenköchen sieht sich nicht in erster Linie als Konkurrenten, sondern als Teil einer Gemeinschaft. Man tauscht sich in einer WhatsApp-Gruppe aus, hilft mit Rat oder bei Bedarf auch mal mit der Gebrauchsleihe von Geräten.
Menü statt Halbpension. Zum Schluss des Rundgangs sehen wir das «Gourmet-Wunder von Grindelwald» in einer weiteren, interessanten Variante: Auch die Brüder Matthias und Lars Michel entstammen einer Hotelfamilie, deren Tätigkeit im Ort fünf Generationen zurückreicht. Gegenüber dem «Gletschergarten», dem Hotel ihrer Eltern, haben die Brüder Ende 2022 den «Fiescherblick» mit 19 Zimmern nach zwölf Jahren Leerstand als persönlichen Traum vom Gastgebertum wiedereröffnet. Hölzerne Gemütlichkeit trifft hier aus skandinavischen «Hygge»-Stil. In der Küche steht mit dem jungen Berner Aurélien Mettler ein grosses Talent, das klassische Handwerkstugenden mit regionalen Produkten sowie Ideen aus Japan und Skandinavien zu verbinden versteht. Zum mutigen Hotelkonzept gehört, dass die Gäste – neben dem Frühstück – abends nur ein Menü in verschiedenen Grössen angeboten bekommen. Mit dem gewagten Menükonzept inmitten einer tradierten Halbpensionskultur konnten die Brüder Michel ihre Mitarbeiterzahl innerhalb von nur einem Jahr von 9 auf 16 erhöhen. Damit beweisen sie auch, dass der neue Küchen- und Gastgeberstil im Dorf auf eine interessierte Kundschaft trifft. Neben der Fels gewordenen Faszination Eiger, Mönch und Jungfrau kann sich gutes Essen in Grindelwald als Touristenmagnet etablieren.
Romantische Adressen auf der Piste. Abseits des geschäftigen Dorflebens gibt es eine Reihe empfehlenswerter Adressen auf Pisten und an romantischen abgelegenen Orten: im «Rasthysi» (Holenwang) empfangen Lebenskünstler Rolf Schneller und Trüffelhuhnd Cipo. Gastegeberin Luzia Gisler führt auf 1400 Meter über Meer die paradiesische Ischiboden-Hütte. Perfekt für einen Zwischenstopp und einen Kaffee mit handgemachtem Nussgipfel ist das Hoflädeli & Brüggbeizli, das auch mit Skis erreichbar ist. Mit Skis oder mit dem Bus ist das Stallbeizli Heubode erreichbar, welches zu einem benachbarten Hof gehört. Zurück im Ort gilt Onkel Tom’s Weinlokal als Kultadresse: Familie Läcuhli serviert einmalige Blech-Pizzas, die Weinkarte umfasst 400 Positionen.