Fotos: Adrian Bretscher

Rekordmonat. Um 10.15 Uhr wird mir eine schwarze Schürze ausgehändigt, T-Shirt statt Kochjacke ist völlig ausreichend, und der zugewiesene Arbeitsplatz ist in einer schön geschützten Ecke der Küche des Bistro Neumarkt gelegen. Einen Tag lang bin ich als Küchenhilfe in dieser traditionsreichen Zürcher Gastroinstitution vorgesehen, zu der ein versteckter Innenhof mit alten Bäumen in der Altstadt gehört. Für manche ist es die schönste Gartenbeiz der Stadt, entsprechend gross der Andrang an einem schönen Sommertag wie heute. «Der August war ein Rekordmonat», sagt Nenad, was das aus Küchensicht heisst, werde ich im Laufe des Tages noch erfahren und am Ende auch im Wortsinn spüren.

David Schnapp bei Nenad Mlinarevic im Neumarkt Zürich - Schnapp hilft in der Küche

Schwarze Schürze und T-Shirt genügen: die ruhige Ecke für den Praktikanten.

Planung, Übersicht, Organisation. Der 43-jährige Nenad Mlinarevic führt die Küche zurzeit selbst, daneben ist er zusammen mit Geschäftspartner Valentin Diem verantwortlich für die nahe gelegene «Bauernschänke», das Gemüserestaurant «Neue Taverne», die Brasserie Süd im Hauptbahnhof sowie das Fine-Dining-Tresenrestaurant «The Counter» mit Top-Chef Mitja Birlo. «Jedes Restaurant ist anders», sagt Nenad. Im «Neumarkt» sei die Küche zwar einfach, aber die Organisation und Koordination erfordere viel gute Planung und Übersicht. Den ebenso dynamischen wie temperamentvollen Koch kenne ich mittlerweile gut, in meinem Lebenslauf stehen bereits Praktika im damals mit 18 Punkten ausgezeichneten «Focus» im Park Hotel Vitznau sowie im Pop-up «Stadthalle», wo Nenad den Grundstein gelegt hat für seine heutigen Aktivitäten in der Stadt Zürich.

Neumarkt Garten Eingang

Rekordmonat: Der «Neumarkt»-Garten ist bei schönem Wetter äusserst populär.

Nenad Mlinarevic Neumarkt Garten

«Jedes Restaurant ist anders»: Chef Nenad Mlinarevic.

Rindfleisch-Kroketten Neumarkt

Einfache Küche im Nenad-Stil: Kroketten mit geschmortem Rindfleisch und Kartoffelsalat.

Angriff am Stelvio. Nenad gibt den Takt für den Tag vor, er kommt gerade von einer morgendlichen kurzen Tour mit dem Rennvelo, am Wochenende davor ist er beim Amateur-Rennen «Chasing Cancellara» 199,37 Kilometer mit 4767 Höhenmetern von Zürich nach Andermatt gefahren. Das habe ich vor dem Stellenantritt auf der Sport-App Strava nachgeschaut, wo Profis und Hobby-Athleten ihre Leistungskurven veröffentlichen. Mein Chef für einen Tag ist also ziemlich fit, voller Energie und dazu noch ganz im Wettkampfmodus. «Am Mittag wird das heute ein lockeres Zone-2-Training, am Abend greifen wir am Stelvio an», sagt lachend mit Anspielung auf den legendären Pass im Südtirol, der Velo- und Autofahrer gleichermassen fasziniert. Für den Mittag sind zwar bloss 30 Reservationen eingetragen, abends werden aber 150 Gäste erwartet, darunter drei Gruppen mit jeweils 18 bis 50 Personen. Dazu kommen dann noch so genannte «Walk-ins» – spontane Gäste ohne Reservation –und am Ende des Tages werden wir für über 200 Leute gekocht haben.

David Schnapp bei Nenad Mlinarevic im Neumarkt Zürich - Schnapp hilft in der Küche

Am Ende gibt es Salat: Schweizer Ochsenherztomaten in drei Farben.

David Schnapp bei Nenad Mlinarevic im Neumarkt Zürich - Schnapp hilft in der Küche

Viel Vorbereitung und Portionierung: Der Praktikant rüstet Tomaten.

David Schnapp bei Nenad Mlinarevic im Neumarkt Zürich - Schnapp hilft in der Küche

Vorbereitung für den Abendservice: Jeder Salat besteht aus 200 Gramm Tomaten.

Ein Vormittag aus Gurken und Tomaten. «Ein grosser Teil der Arbeit, die wir jetzt hier machen, besteht darin, Zutaten zu portionieren», erklärt Nenad. Je besser die Vorbereitung, desto leichter und schneller später der Service. Zürcher Gäste warten nicht gerne, diese Erfahrung haben viele Köche in der Stadt schon gemacht. Mein Vormittag besteht deshalb aus Gurken und Tomaten, jeweils ein grosses Becken und mehrere Kilogramm davon. Zuerst widme ich mich den Gurken, sie werden gewaschen, halbiert und dann in Salzlake vakuumiert. Garde Manger Sascha Huber, zuständig für die kalten Vorspeisen, rät mir, einen Timer zu stellen: Eine Stunde lang sollen das Gemüse in der Lake liegen. In dieser Zeit kann ich die grünen, gelben und roten Tomaten vom Stielansatz befreien und dann in Achtel oder Sechstel schneiden. Nach genau 60 Minuten, ein reiner Zufall, ist der nächste Schritt bei den Gurken fällig. Kümmel wird kurz geröstet und eine Marinade aus Essig, Salz und Zucker erwärmt, zwei Blätter Lorbeer braucht es dazu auf jeweils ein halbes Dutzend Gurkenhälften. Anstatt in Lake werden sie jetzt in dieser Lösung eingelegt und später dann in Scheiben geschnitten. Dafür, dass die Küche einfach sein soll, ist der Aufwand für einen Teller Gurken mit Fetacreme und Dillpulver ziemlich hoch, finde ich. Die Tomaten, farblich sortiert und in 200-Gramm-Einheiten portioniert, werden später hingegen mit Pfirsichscheiben, rotem Basilikum, einer Shiso-Vinaigrette und Yuzu-Sesam in hübschen Blumenschalen angerichtet.

David Schnapp bei Nenad Mlinarevic im Neumarkt Zürich - Schnapp hilft in der Küche

Erstaunlich viel Aufwand: Autor Schnapp röstet Kümmelsamen für die eingelegten Gurken.

Yoga und «Power Nap». Der Mittagservice ist fast vorbei, in meiner Ecke habe ich davon nicht viel mehr als die Ansagen von Nenad mitbekommen. Er steht am Pass, wo die Gerichte von der Küche den nimmermüden Serviceleute übergeben werden: «Zweimal Business Lunch can go!», ruft Nenad, wobei er «cango» zu einem einzigen fliessenden Ausdruck verbindet, gleich danach das Team anfeuert und plötzlich wieder einen unterwarteten Wortwitz einstreut. Die rund 30 Gäste werden mit souveräner Routine bewirtet: «Vitello Trotato», Artischocken-Ravioli oder herzhafte Rindfleisch-Kroketten mit Kartoffelsalat stehen auf der Karte. Danach ist Zeit für die Zimmerstunde. Nenad hat eine Yoga-Lektion gebucht, während ich mich zu Hause für einen «Power Nap» aufs Sofa lege. Um 17 Uhr geht es weiter, jetzt steigt die Anspannung, schliesslich liegt der imaginäre Stelvio-Pass vor uns. Kurz vor Servicebeginn um 19 Uhr tönt noch laut «Careless Whisper» von George Michael aus dem tragbaren Lautsprecher über dem Pass, das schnulzige Lieblingslied von einem der Köche, das in dem Moment so gar nicht zu allgemeinen Lage passen will.

David Schnapp bei Nenad Mlinarevic im Neumarkt Zürich - Schnapp hilft in der Küche

Heisser Plancha-Grill, glühende Kohlen: Köche Sascha Huber und Melf Jensen.

David Schnapp bei Nenad Mlinarevic im Neumarkt Zürich - Schnapp hilft in der Küche

Konzentration gefragt: Sascha Huber ist verantwortlich für die kalten Vorspeisen und die Desserts.

Rauch, Hitze, Gelächter. Plötzlich geht es los, Vorspeisen, Annoncierungen («zweimal Menü für die Bar!»), kurze Kritik, Hauptgänge und zerbrochenes Glas wechseln sich in schnellem Rhythmus ab, während ich Fetacreme auf Glasteller gebe und verteile, indem ich mit der flachen Hand von unten an den Tellerboden klopfe, dann im Kreis marinierte Gurkenstücke darauf verteile und kurz vor dem Servieren mit Dillpulver bestäube. «Zieh, zieh, zieh!», ruft Nenad immer wieder wie ein Trainer an der Seitenlinie. Durch die offene Küchentür, die zum Garten hinausführt, sind das laute Lachen und das Gesprächsdurcheinander der Gäste zu hören, in der Küche glüht der japanische Grill, und es raucht der Plancha, auf dem Fleischkäse, Luma-Hacktätschli ebenso wie Bohnen angebraten werden. Eine Portion Forellenknusperli wird frittiert und gleich mit Remoulade serviert: «Eines der Gerichte, die am häufigsten bestellt werden», sagt Melf Jensen, der Mann an der Fritteuse.

Forellenknusperli Neumarkt

Ein Bestseller im «Neumarkt»-Garten: die Forellenknusperli mit Remoulade-Sauce.

Saubere Schnittkante. Nun gilt es, für die drei Gruppen das Dessert vorzubereiten – 50 Teller insgesamt. Dafür habe ich ein Blech mit gebackener Brownie-Masse mit einem Messer in dicke, handlange Streifen geschnitten. Damit die oben aufliegende Schokoladeschicht nicht zerbricht und eine saubere Kante entsteht, wird das Messer vor jedem Schnitt in heisses Wasser getaucht und abgewischt. Die Art von Demut, die man in einer professionellen Küche aufbringen muss, um eine monotone Arbeit dennoch mit gleichbleibender Präzision, bei möglichst hoher Geschwindigkeit auszuführen, hat mich immer schon fasziniert und erfüllt mich auch diesmal wieder mit tiefer Befriedigung. 

David Schnapp bei Nenad Mlinarevic im Neumarkt Zürich - Schnapp hilft in der Küche

Es ist angerichtet: marinierte Gurken mit Fetacreme.

David Schnapp bei Nenad Mlinarevic im Neumarkt Zürich - Schnapp hilft in der Küche

«Es braucht Speed»: ein Abend mit 170 Gästen im «Neumarkt».

David Schnapp bei Nenad Mlinarevic im Neumarkt Zürich - Schnapp hilft in der Küche

Schnapp macht Salat: Tomaten mit Pfirsichen und Shiso-Dressing.

Immer wieder herausfordernd. Zwischendurch wird es hektisch, Nenad ist nicht zufrieden mit der Organisation in seiner Küche. «Die Teller», sagt er einem Koch, «hättest du schon vor dem Service abzählen können, du weisst ja, wie gross die Gruppen sind». Nachdem sich gegen 22 Uhr die Lage entspannt hat, sprechen wir kurz über den Abend: «Heute war es ziemlich hektisch», sagt Nenad. So viele Essen zu schicken, sei immer wieder eine Herausforderung. «Das Design der Gerichte ist entscheidend. Sie müssen so aufgebaut sein, dass sie schnell geschickt werden können. Wir haben hier 1200 bis 1400 Gäste pro Woche, deshalb kommt es auf den Speed an», erklärt der gut organisierte Chef mit dem Herzen und Mindset eines Spitzensportlers. Nach neun Stunden stehender Arbeit in der Küche bin ich hingegen eher für Langsamkeit zu haben. Und plötzlich scheint der Refrain von «Careless Whisper» doch noch perfekt zu diesem ungewohnten Arbeitstag zu passen: «So I'm never gonna dance again/Guilty feet have got no rhythm», heisst es da und meine Füsse fühlen sich tatsächlich so an, als wollten sie bis auf weiteres nicht tanzen.


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