Text: David Schnapp | Fotos: Maria Schiffer
Mit besten Empfehlungen. Die Schweiz hat er vor einigen Monaten mit den besten Empfehlungen verlassen, der 18. Punkt war auf dem Weg, zwei Sterne waren für Reto Brändlis Leistung im Hotel Kempinski in St. Moritz bereits vermerkt, als die gesamte Führungs-Equipe des Hauses ausgewechselt wurde. Der talentierte Brändli nutzte die Chance, «die Komfortzone zu verlassen», wie er sagt, im Frühling 2022 begann er einen neuen Lebensabschnitt als Küchenchef im «Lorenz Adlon Esszimmer» im Berlin, seit Jahren eines der besten Restaurants der deutschen Hauptstadt.
Haifischbecken Berlin. Als Gast des Restaurants im geschichtsträchtigen Hotel Adlon Kempinski blickt man aufs Brandenburger Tor, hier sitzen Staatsgäste zu Tisch, «mindestens einmal pro Woche koche ich für einen bekannten deutschen Politiker», sagt Brändli mit einem Bewusstsein für die Bedeutung der Aufgabe im wohl besten Hotel der Republik. Der erste Schweizer Küchenchef im Haus zu sein, erfülle ihn mit Stolz, sagt er. Und Brändli hat keine Zeit verloren, um im kulinarischen Haifischbecken Berlins sein Gebiet abzustecken.
Fisch, Fleisch, Hitze. «Ich bin in Berlin das, was der Schauspieler Bradley Cooper als Küchenchef Adam Jones in ‹Burnt› darstellt», umschreibt Brändli seine Rolle mit einem starken Bild: Im Film geht es bisweilen heiss zu und der Schweizer meint genau das. In seiner Küche wird Fisch und Fleisch mit Hitze zubereitet, «weil das einfach mehr Geschmack gibt». Offen und direkt erklärt Brändli, wofür er als Koch stehe, und warum «Vakuumsäcklein» in seiner Küche nichts verloren hätten. Schon allein damit hebe er sich hier ab: «In Berlin habe ich noch in keinem Top-Restaurant einen gebratenen Fisch serviert bekommen», so Brändli. Und auch sein Bekenntnis zu klassischen Luxusprodukten wie Kaviar von Kaviari aus Paris, Taube von Spitzenzüchter Jean-Claude Miéral aus der Bresse oder gut abgehangenes Kalbfleisch aus Bayern unterscheidet ihn von den meisten lokalen Berufskollegen.
Moderne Klassik. Reto Brändli ist Anhänger einer modern interpretierten, aber in der Tradition der französischen Haute Cuisine verwurzelten Art des kulinarischen Ausdrucks: «Ausser im Dessert gibt es in jedem meiner Gerichte tierische Eiweisse, aber wir verwenden dabei alles vom Tier». Von der Taube gibt es nicht nur die gebratene Brust, sondern auch Keule, Herz und Leber in einem hübschen Dumpling verpackt. Und zum Entrecôte werden auch Stücke von Backe, Schwanz sowie Innereien vom Kalb als Ragout unter einem Topinambur-Schaum serviert. «Das gebietet der Respekt vor dem Tier», findet der 31-Jährige aus Pfäffikon SZ.
Lange Suche nach Qualität. Es sei aber gar nicht so einfach gewesen, in Berlin an Produkte zu kommen, die seiner Vorstellung von Spitzenküche entsprechen, erzählt Reto Brändli. «Guter Meerfisch ist echt schwer zu finden, und bis mir jemand Kalbsrücken liefern konnte, der am Knochen sorgfältig gereift wurde, habe ich lange rumtelefoniert», so der Koch. Zweieinhalb Stunden setzt Brändli täglich für die Suche nach besten Zutaten ein. Damit scheint er auf einem guten Weg, die Stammgäste sind begeistert, das Restaurant mit elf Tischen und etwa 40 Plätzen zu 90 Prozent ausgelastet. «Aber ich will 100 Prozent», sagt der junge Mann selbstbewusst. Auch auf die Frage, welches mittelfristige Ziel er sich gesetzt habe, antwortet Reto Brändli unverfälscht-direkt: «Ich möchte einen Menüpreis von 300 Euro etablieren – und gleichzeitig ein volles Restaurant haben». Denn erstens sei das ein angemessener Betrag für die Produkte und die Arbeit, die sein Team und er in die Zubereitung stecken, und zweitens führe der direkteste Weg zu einem angenehmeren Leben als Küchenchef über ein ausgeglichenes Budget, das dem Management alle möglichen Zweifel nimmt.
70, 80 Bewerbungen für die Lehre. Dass Reto Brändli in der deutschen Hauptstadt kocht und nicht mehr in den Schweizer Alpen, ist ebenso die Folge einer eher zufälligen Abfolge von Ereignissen wie die Tatsache, dass er überhaupt Koch geworden ist. «Ich war ein schlechter Schüler mit ungenügenden Noten in wichtigen Fächern wie Mathematik, Sprachen und Betragen. Aus meiner Sicht kann unser Schulsystem jungen Menschen mit Stärken in kreativen und handwerklichen Bereichen wenig bieten.» In der Küche hat der junge Schwyzer erstmals etwas gefunden, wofür er Bestätigung erhielt, «aber um eine Lehrstelle zu finden, musste ich 70, 80 Bewerbungen verschicken», sagt er. Bei Kurt Röösli, dem früheren Küchenchef im Waldhaus Sils und ein Lehrmeister von exzellentem Ruf, hat es dann geklappt, in Reto Brändlis ansehnlichen Lebenslauf stehen ausserdem Stationen wie Andreas Caminadas Schloss Schauenstein, das Hôtel de Ville in Crissier (bei Benoît Violier), die Villa Principe Leopoldo unter Dario Ranza oder das «Ecco» von Rolf Fliegauf in Ascona und St. Moritz, bevor er als Küchenchef im «Kempinski» bewiesen hat, dass man ihm ruhig die Gestaltung einer Menükarte und ein ganzes Restaurant überlassen kann.
Schwyzer Gradlinigkeit. Mit seinem Bekenntnis zum Handwerk des Kochens, das vielerorts durch das so genannte Storytelling ersetzt wurde, mit seinem ausgezeichneten Sinn für gute Produkte, mit gehaltvollen Saucen und dem gleichzeitigen klugen Einsatz von Säure, mit vertrauten und geschmackvollen Kombinationen, die gleichzeitig gerne mit überraschenden Akzenten versehen werden, und vor allem mit seiner Schwyzer Gradlinigkeit, dürfte Reto Brändli in Berlin bald zu einer gewichtigen Stimme im Kanon der Spitzenköche werden.