Text: Alex Kühn I Fotos: Digitale Massarbeit

Strandspaziergang mit Dominique. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen und den Schal fest um den Hals gewickelt, so geht Dominique Crenn mit Andreas Caminada den Strand von Crissy Field am nördlichen Zipfel San Franciscos entlang. «Ich liebe es, die frische Brise im Gesicht zu spüren und die klare Luft einzuatmen, die der Wind über den Pazifik trägt», sagt sie. Am Horizont zeichnet sich ein Teil der Golden Gate Bridge ab. Die 1937 eröffnete, 2737 Meter lange Wunderbrücke ist – wie so oft – in feinen Nebel gehüllt und wirkt, als führe sie nicht hinüber nach Sausalito, wo Dominique wohnt, sondern in ein wolkenverhangenes Nirgendwo. «An langen Arbeitstagen komme ich oft hierher, weil dieser Ort die Hektik der Stadt in sich aufsaugt und mir Ruhe schenkt», erklärt die Starköchin und schaut hinaus auf das unendliche Blau des Ozeans. Grosses Bild oben: Andreas Caminada und Dominique Crenn vor dem Café The Mill.

Frühstückstipp: Café The Mill. Seeluft macht hungrig, und Dominique hat den ultimativen Frühstückstipp: das Café The Mill im beschaulichen Stadtteil Alamo Square. Das Lokal ist ein Joint Venture der Rösterei Four Barrel Coffee und der Bäckerei Josey Baker Bread. Vom weitläufigen Gastraum aus sieht man in die offene Backstube, die prächtigen Brotlaibe landen noch warm im Selbstbedienungsregal oder werden hinter dem Tresen in Scheiben geschnitten und mit Avocado, geräucherter Forelle oder Hummus serviert. Andreas aber hat noch eine Attraktion entdeckt: die mit Puderzucker bestäubten Mandelcroissants, die zusammen mit superknusprigen Pains au chocolat und fluffigen Zimtschnecken in einer blitzblank polierten Vitrine ausgestellt sind. «Wer kann da widerstehen?», fragt er und beisst freudig in sein süsses Frühstück. Josey Baker Bread stellt übrigens nicht nur Weizen- und Roggensauerteigbrot der Extraklasse her, sondern veranstaltet auch Backkurse. Wenn das mal keine Ausrede ist, um das nächste Mal ein wenig länger in San Francisco zu bleiben.

Caminada Magazin, Andreas Caminada, Dominique Crenn, San Fransisco Fotografiert Juni 2024

Der Strand von Crissy Field im Norden der Stadt ist Dominique Crenns Kraftort. 

Caminada Magazin, Andreas Caminada, Dominique Crenn, San Fransisco Fotografiert Juni 2024

Ein Wahrzeichen der Stadt: Die steilen Strassen San Franciscos

Caminada Magazin, Andreas Caminada, Dominique Crenn, San Fransisco Fotografiert Juni 2024

Dominique und ihr Gast auf der Fahrt mit dem ikonischen Cablecar.

Liebe auf den ersten Blick. Dominique kam Ende der 80er-Jahre das erste Mal in die 800‘000-Einwohner-Metropole im Norden Kaliforniens – und es war Liebe auf den ersten Blick. «Der freie Geist der Stadt lässt die Kreativität der Menschen sprudeln, auch meine eigene. Dass ich nach meinem Wirtschaftsstudium ausgerechnet in San Francisco einen anderen Weg einschlug und Köchin wurde, ist kein Zufall», erklärt sie. Inzwischen ist Madame Crenn in ihrer Wahlheimat längst eine Institution. Wer in ihrem Flaggschiff-Restaurant – dem seit 2018 mit drei Michelin-Sternen ausgezeichneten «Atelier Crenn» an der Fillmore Street – essen möchte, muss mehrere Monate im Voraus reservieren.

Netflix-Star & Top 100 im Time Magazine. Nach dem Auftritt in der Netflix-Serie «Chef’s Table», der ihrer Popularität 2016 einen mächtigen Schub verlieh, schaffte es Dominique in diesem Jahr sogar auf die Liste der 100 einflussreichsten Personen des «Time Magazine» – in der Kategorie Innovators. Dass sie andere an ihrem Erfolg teilhaben lässt, ist für sie selbstverständlich. Patissier Juan Contreras und Restaurantleiter Maxime Larquier sind beide am «Atelier Crenn» beteiligt. Und als die Coronapandemie die Stadt im Würgegriff hielt, wandelte Dominique ihr zweites Restaurant, das «Petit Crenn», in eine Gassenküche um. Wenn es darum ging, Essen an Bedürftige zu verteilen, war die Chefin stets voller Elan an vorderster Front. Ein Mann sagte zu ihr: «Ihren Speisen merkt man an, dass sie mit Liebe zubereitet sind.» Das freute Dominique mindestens so sehr wie ihre zahlreichen Auszeichnungen.
 

Caminada Magazin, Andreas Caminada, Dominique Crenn, San Fransisco Fotografiert Juni 2024

Als führte sie in ein wolkenverhangenes Nirgendwo: die berühmte Golden Gate Bridge in San Francisco.

Tattoos & Taccheria. San Francisco ist für die Drei-Sterne-Köchin längst nicht nur der hippe Teil der Stadt mit den Leuten, die sich das 450-Dollar-Menü im «Atelier Crenn» leisten können. Deshalb zeigt sie uns nach einer Berg-und-Tal-Fahrt mit einem der berühmten Cablecars den Mission District. Der vorwiegend von Einwanderern aus Lateinamerika bewohnte Stadtteil, der als sozialer Brennpunkt gilt, fasziniert sie seit je. «Hier habe ich mir mehrere Tattoos stechen lassen, und hier gibt es den besten Streetfood», sagt sie und steuert zielsicher auf das Haus 2779 Mission Street zu. Auf einer gelben Tafel prangt der Name des Lokals: Taqueria El Farolito. Im Inneren stehen ein gutes Dutzend Kunden Schlange, während auf den Grillplatten Fleisch und Zwiebeln brutzeln. Dominique gibt eine Bestellung auf, die für eine Grossfamilie reichen würde, und ein paar Minuten später sitzen sie und Andreas mit verschmierten Mündern und tropfenden Fingern vor Burritos, Tacos und Quesadillas. 

Sie wärmt allen das Herz. «Die Tacos mit Rindszunge sind die besten, die bestelle ich hier jedes Mal», sagt die Insiderin und gibt eine grüne Salsa mit Koriander und Avocados auf ihr Lieblingsessen. Was vom Festmahl übrig bleibt, packt sie in Alufolie ein und verteilt es auf der Strasse an Menschen, die wegen der fehlenden sozialen Absicherung in den USA täglich ums Überleben kämpfen müssen. Starallüren bei der berühmtesten Köchin Amerikas? Ganz im Gegenteil! Sie wärmt allen das Herz.

Caminada Magazin, Andreas Caminada, Dominique Crenn, San Fransisco Fotografiert Juni 2024

Der freie Geist San Franciscos lasse ihre Kreativität sprudeln, sagt Dominique Crenn.

Caminada Magazin, Andreas Caminada, Dominique Crenn, San Fransisco Fotografiert Juni 2024

Faszination abseits des hippen Stadtteils: der Mission District.

Caminada Magazin, Andreas Caminada, Dominique Crenn, San Fransisco Fotografiert Juni 2024

Es darf auch einfach sein: In der «Taqueria El Farolito» langten die Starchefs beherzt zu.

Der Kampf gegen Brustkrebs. In San Francisco hat Dominique nicht nur ihr berufliches, sondern auch ihr privates Glück gefunden. Und das auf hollywoodreife Weise. Ihre heutige Ehefrau, die Schauspielerin Maria Bello, bat sie im Frühling 2019 via Instagram um einen Tisch im «Atelier Crenn» – und sass wenig später als Gast im Lokal. Die zwei Frauen waren sich auf Anhieb sympathisch, und aus Sympathie wurde alsbald Liebe. Doch kaum hatten die beiden zusammengefunden, fiel ein dunkler Schatten auf ihr Leben: Dominiques Brustkrebsdiagnose. «Ohne Maria hätte ich diese Zeit wahrscheinlich nicht überlebt, doch die Liebe schenkte mir eine unheimliche Energie», erinnert sich die Drei-Sterne-Köchin. Mitten in der Chemotherapie verlobten sich Dominique und Maria, fünf Jahre später, am 12. Mai 2024, heirateten sie in Mexiko. Dominique in strahlendem Weiss, Maria in leuchtendem Pink.

Seeigel & Austern mag Andreas nicht. Auch an ihre erste Begegnung mit Andreas erinnert sich Dominique noch genau. «Das war 2017, wir hielten beide einen Vortrag am International Cooking Summit Chef Alps in Zürich, und ich fuhr danach nach Fürstenau, um auf dem Schloss zu essen. Ich muss zugeben, dass ich nicht mit allen Berufskolleginnen und -kollegen sofort Anknüpfungspunkt finde, aber Andreas und ich hatten auf Anhieb eine gemeinsame Ebene. Er ist sehr offen und neugierig – dazu hat er Visionen, denkt weit über den sprichwörtlichen Tellerrand hinaus», erzählt die Wahl-Kalifornierin. Und nun also der Gegenbesuch: ein Bündner in San Francisco! «Ich freue mich riesig, dass Andreas die Reise in meine Stadt auf sich genommen hat. Da verzeihe ich es ihm sogar, dass er mein Signature Dish, Seeigel mit Austern, nicht essen möchte», sagt Dominique und wirft ihrem Gast einen gespielt strengen Blick zu. «Ich bin in den Bergen aufgewachsen, da gibt es diese Viecher nicht», entschuldigt sich Andreas.

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Signature Dish aus dem Menü des «Atelier Crenn»: Abalone aus der Monterey Bay mit Rotkohl und Kaviar.

Atelier Crenn San Francisco

Für die Umgestaltung ihres Restaurants spannte Dominique mit Szenenbildner Ethan Tobman zusammen.

Der grösste Bauernmarkt von San Francisco. Das nächste Etappenziel der Stadtrundfahrt mit Dominique Crenn ist das Ferry Building in Downtown San Francisco. 1898 fertiggestellt, war der Fährschiff-Terminal bis in die 30er-Jahre das wichtigste Eintrittstor zur Metropole. Im Lauf der Jahrzehnte schwand seine Bedeutung aber sukzessive. Erst eine umfassende Renovation und die Umwandlung in eine Foodhalle im Jahr 2004 brachte das Ferry Building zurück auf die Landkarte von Einheimischen und Gästen aus aller Welt. Immer am Dienstag, Donnerstag und Samstag findet rund um das Gebäude der grösste Bauernmarkt San Franciscos statt – sehr zur Freude von Dominique. «Wenn die Ernte von unserem eigenen Bauernhof nicht reicht, kaufen wir hier bei Produzentinnen und Produzenten unseres Vertrauens ein», erklärt sie.

Abalonen & Amazake im «Atelier Crenn». Die Hauptrolle im Menü, das am Abend im «Atelier Crenn» auf den Tisch kommt, spielt aber der Pazifische Ozean, dessen Brise Dominique so liebt. Die Abalonen aus der Monterey Bay vom Yakitori-Grill mit Rotkohl. Senf, Oscietra-Kaviar und XO-Sauce, die auf den Abschnitten der Meeresschnecken basiert, macht Andreas tüchtig Eindruck. «Abalonen sind oft ein wenig gummig. Hier ist die Textur aber fantastisch», bemerkt er. Nicht minder köstlich: die Garnelen aus Santa Barbara, deren Köpfe mit einer Art Ceviche, Seetang, Kapern und Koriander gefüllt sind. Ein Essen im «Atelier Crenn» ist immer abwechslungsreich, fantasievoll, filigran und doch voller Kraft – so wie die Chefin selbst. Auch Spass darf sein: in Form von grünen Fake-Erdbeeren, die täuschend echt aussehen und sich als mit Amazake  gepimpte Mousse aus grünen Erdbeeren, Anchovis und Estragon mit Anchoviescabeche und Zitrone entpuppen. Als Reverenz an die Heimat – sie wuchs in der Bretagne auf – serviert Dominique zu Beginn des Menüs ihre Version des Kir Breton, eine eisgekühlte Kugel aus Kakaobutter und weisser Schokolade, die mit Cidre und Crème de Cassis gefüllt ist. Ein wenig Frankreich steckt noch immer in der Köchin, auch wenn sie Butter, die heilige Kuh der französischen Küche, seit geraumer Zeit aus ihrem Restaurant verbannt hat.

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