Interview: Daniel Böniger I Fotos: Thomas Buchwalder
Sind Sie im Winter auch täglich draussen, um Zutaten zu suchen?
In der Adventszeit habe ich fast meine ganze Zeit gebraucht, um Panettone zu backen. Im Vorjahr verkauften wir 50 Stück davon, dieses Jahr 200. Zudem betreiben wir zwei Gewächshäuser, in denen wir Salat, Portulak, Petersilie, Thymian und so weiter anbauen.
An der frischen Luft sind Sie nicht?
Draussen würden wir derzeit nur noch eine einzige Pflanze finden, die wir in der Küche einsetzen. Und zwar ein Moos, das «Ziegenmoos» genannt wird. Weil es an Baumstämmen wächst, kann man es auch ernten, wenn Schnee liegt. In der Wintersaison arbeiten wir aber vor allem mit allerlei konservierten und fermentierten Zutaten. Wie die Murmeltiere sammeln wir im Sommer und sind jetzt in einer Art Winterschlaf.
Da dürfte es Ihnen, wo Sie in der warmen Jahreszeit doch täglich eine Stunde mit dem Velo unterwegs sind, an Bewegung fehlen, oder?
Nein, ich mache regelmässig Langlauf, was hier in Madulain ja grad vor der Türe möglich ist. Schon in meiner Jugend habe ich diesen Wintersport sehr ambitioniert ausgeführt. Nicht zuletzt trifft man mich mit dem Snowboard im Pulverschnee an. Tatsächlich brauche ich solchen Ausgleich zu meiner Arbeit. Sprich Zeit, die ich nur für mich habe.
Wie steht es um die Familienzeit? Sie haben einen achtjährigen Sohn.
Ich verbringe den freien Mittwochnachmittag mit ihm. Oft essen wir mittags gemeinsam. Wir haben genug Zeit zusammen, weil ich hier mein eigenes Restaurant habe und meinen Tag selbst einteilen kann.
Der Sohn geht im Dorf zur Schule. Sie haben so viel Kontakt mit den Einheimischen. Was denken diese über einen Starchef, der mit Moos, Kräutern und Pilzen kocht?
Wer eine Region oder ein Terroir auf den Teller bringen möchte, muss nicht nur die Natur kennen, sondern auch die Menschen dort. Ich bin in den Dolomiten in einem kleinen Dorf aufgewachsen, darum ist mir das sehr bewusst. Und mir ist die Mentalität der Menschen in Bergregionen ja alles andere als fremd. Ich bin kein «Mailänder», der nur an Zahlen und ans Business denkt - insofern passe ich ins Setting.
Aber versteht man hier Ihre Art zu kochen?
Es braucht auch künftig noch Überzeugungsarbeit, wie ich es gestern einmal mehr erleben konnte. Für einen Anlass der Skischule bereitete ich mein Gericht namens «Willkommen in der Schweiz» zu. Das sind mit Zuozer Lamm gefüllte Ravioli, die wie eine Schokoladentafel aussehen. Sie sind eingewickelt in essbares Silber, als wäre es Aluminiumfolie. Serviert wird das Ganze auf einer Uhr, welche die genaue Zeit anzeigt. Dazu gibt es falschen Emmentaler mit Safran aus Sagogn.
Und wie war die Reaktion der Anwesenden?
Der Regisseur Norman Foster war mal ganz begeistert, als ich ihm dieses Gericht aufgetischt habe. Am Anlass gestern stiess ich erst auf verhaltenes Schweigen - bis die Leute probiert hatten und merkten, dass es gut schmeckt! (Lacht.) Die Einheimischen lullt man nicht so einfach ein, aber es sind die wichtigsten Gäste.
Sie möchten also schon, dass die hiesige Bevölkerung auf Ihre Terroirküche anspricht?
Ja, die Achtzigerjahre, wo hier im Engadin noch Schildkrötensuppe aufgetischt wurde, sind zum Glück vorbei. Auch wenn ich ein langhaariger, künstlerisch veranlagter Küchenchef bin, merken die Leute immer mehr, dass ich viele Zutaten verwende, die ihre Grosseltern noch kannten, die sie aber vergessen haben. Das weckt schon Interesse.
Welche althergebrachte Zutat aus der Region hat Sie im vergangenen Jahr am meisten fasziniert?
Ich entdecke jährlich ungefähr zwanzig neue Zutaten, kenne inzwischen etwa deren 120. Ich muss darum zwei Favoriten nennen: Einerseits weisses Moos, welches ich als Kruste für ein Hirschfilet mit Himbeere verwendet habe. Das Fleisch habe ich auf einen Waldboden aus Pilzen und Sauerkraut gelegt.
Und die zweite Zutat?
Tanaceto, auf deutsch Rainfarn. Diese Blume erinnert optisch an Kamille, schmeckt aber ähnlich penetrant wie Kampfer und ist unverarbeitet kaum geniessbar. Ich mache damit ein Sorbet, das ungeheuer elegant schmeckt.
Welche Zutat wird für Sie 2024 prägen?
Das weiss ich noch nicht. Ich arbeite weiter an meiner Sammlung von lokalen Ingredienzen, will aber auch meine Techniken noch weiterentwickeln. Die Zutaten sind das eine - was man damit macht, das andere.
Sie wurden von Bio Cuisine und GaultMillau zum «Green Chef 2024» erkoren. Wie haben die Gäste bisher auf diesen Titel reagiert?
Ich fühlte mich ja immer schon als grüner Chef. Mir gefällt nicht, wohin sich Lebensmittelindustrie und täglicher Konsum bewegen. Und diese Haltung diskutiere ich auch mit den Gästen. Darum ist dieser Preis für mich eine unglaubliche Ehre!
Interessiert die Auszeichnung Gäste, die mit dem SUV aus St. Moritz anreisen?
Meine Regel lautet: Sag Deinen Gästen, was Du denkst! Darunter hat es manchmal finanzkräftige Industrielle, und auch mit ihnen debattiere ich. Erzähle davon, wie ich die Küche möglichst nur mit Wasser und Essig putze. Regelmässig merke ich, dass sie sich für solche Dinge interessieren. Sie wollen ja nicht stehenbleiben. Und vor allem: Diese Leute können mehr bewirken als ein kleiner Küchenchef in Madulain.
Wollen Sie 2024 noch grüner werden?
Diesbezüglich bin ich erst am Anfang, ich werde meinen Weg kontinuierlich weitergehen. Derzeit arbeiten wir zum Beispiel daran, ein Wildkräuter-Festival im Oberengadin auf die Beine zu stellen. Ich möchte ja mein zusammengetragenes Wissen weitergeben. Bestenfalls entsteht eine Bewegung daraus, also mehr als ein Restaurant. Die Leute könnten auch daheim wieder mit wildem Spinat kochen! Mit solchen Projekten muss ich nichts verdienen - mein Geld mache ich mit den Gerichten, die ich im Stüva Colani verkaufe.
Weitere Projekte fürs neue Jahr?
Es ist zwar noch nicht alles in trockenen Tüchern, aber ich wurde angefragt für eine Tagung über gesundes Essen mit mehreren bekannten Küchenchefs in St. Moritz. Auch Norbert Niederkofler soll auftreten. Er ist eines meiner grossen Idole - es würde mich freuen, wenn das zustande kommt.
Ist das Engadin für Sie eigentlich eine Heimat geworden?
Heimat war bisher für mich immer dort, wo ich gearbeitet habe. Was hier tatsächlich anders ist: Wir haben hier ein Haus gekauft, mein Sohn geht hier zur Schule. Für die nächsten zehn Jahre sind ich und meine Frau gebunden. Ich verstehe sogar Rätoromanisch, getraue mich wegen meines Akzents aber noch nicht, diese Sprache zu sprechen. (Lacht.) Und: Wenn ich heute vom Wald träume, dann ist es inzwischen der Wald im Engadin - und nicht mehr derjenige aus meiner Kindheit, wie es bei meinen Wirkungsstätten zuvor war.
Als junger Mann arbeiteten Sie bei Massimo Bottura. Merkt man diesen Einfluss noch bei Ihrer Alpenküche?
Das ist lange her, ich habe ja bei Massimo in Modena gearbeitet, als er erst einen Stern hatte. Für mich bleibt er aber mein wichtigster Lehrmeister. Nicht wegen der Rezepturen, die ich vielleicht bei ihm gesehen habe, sondern weil er meinen Denkhorizont erweitert hat. Er gab mir den Schlüssel zu meiner eigenen Handschrift.
Was Sie beide verbindet: Dass sie Humor auf den Teller bringen.
Damit sich die Gäste wohl fühlen, kann eine Prise Humor tatsächlich helfen. Manche Leute haben ja allzu viel Respekt vor Küchenchefs in der gehobenen Gastronomie. Ich frage mich, weshalb. Wir retten ja kein Leben, wir sind gewöhnliche Menschen. Allerdings ist es wohl das Schwierigste, Menschen zum Lachen zu bringen. Beste Zutaten und perfekte Technik alleine genügen meiner Meinung auf die Länge nicht.
Es braucht auch Emotionen?
Es ist tatsächlich so, wie im Disney-Zeichentrickfilm «Ratatouille» dargestellt wird - wenn man die Gefühle der Gäste weckt, dann hat man das Ziel erreicht.
>> Paolo Casanova ist Küchenchef im Hotel Stüva Colani in Madulain im Oberengadin (17 Punkte), geboren wurde der Koch in den italienischen Dolomiten. Seinen Betrieb, zu dem auch ein bodenständiges Bistro gehört, betreibt er seit mittlerweile sieben Jahren gemeinsam mit seiner Frau Stella Guarneri, mit der er einen achtjährigen Sohn hat.
Foto oben mit Ravioli-Schoggi: HO