Text: Urs Heller I Fotos: Thomas Buchwalder
Osteria? Top-Restaurant! Codewort für Gourmets im Mendrisiotto? «Cuntitt»! Wer lange sucht, findet im kleinen Castel San Pietro gleich neben der Dorfkirche eine faszinierende Osteria und Enoteca. Faszinierend ist vor allem der Chef: Federico Palladino richtet mit Leidenschaft an, begeistert seine Gäste. Osteria? Das ist wohl die Untertreibung des Jahres! Das Ristorante ist zwar sympathisch und einfach eingerichtet wie eine Dorfkneipe. Aber draussen vor der Türe stapeln sich die leeren Krug-Champagnerflaschen, ausgeschenkt wird in teure Zalto-Gläser, und den «Glacier 51», den sagenumwobenen Kabeljau aus Australien, kriegt man auch nicht gleich in jeder Osteria. Passt auch nicht zu 100 Prozent in Federicos Konzept: Eigentlich ist im «Cuntitt» «kilometro zero» angesagt. Aber keine Regel ohne Ausnahme(n). Grosses Bild oben: Federico Palladino (r.), Souschef Christian Bosco.
Salmerino mit Wasabi-Mayo. Federico Palladino, Hausherr im wunderschön umgebauten Landwirtschaftsbetrieb, ist GaultMillaus «Entdeckung des Jahres 2022» (15 Punkte). Er bestätigt seine Wahl mit beeindruckenden Stuzzichini. Zwei davon sind Extraklasse: Ein Ei, angeliefert von der Nachbarin, mit allen Ingredienzen einer feinen Carbonara im Schaum. Und ein raffiniertes Törtchen mit einer roten Zwiebel in drei verschiedenen Konsistenzen. Erster Gang im Menü: Salmerino, mit klarer Handschrift des Chefs. Saibling mariniert und leicht karamellisiert, Wasabi in der Mayo, gefrorene Himbeeren. Dann nochmals ein «Ovetto», ein legefrisches Bio-Ei von kleinen Hühnern, die durch die umliegenden Weinberge gackern. Grüne Spargeln gibt’s dazu, Kartoffel-Espuma, Farina Bona und «Guanciale» (Bäggli») von Vertrauensmetzger Gianocca in Arbedo. Ein Wohlfühl-Gang zum Weglöffeln!
Federicos Trick: Mit Honig lackieren! Beim «Glacier 51» und bei der Taube setzt der Chef auf den gleichen Trick: Er lackiert, und zwar mit Honig aus dem Valle di Muggio. Pasta? Wir kriegten auf besonderen Wunsch Tagliolini mit geräucherter Butter, zubereitet mit «trenta tuorli» (30 Eigelb!). In der Originalversion gibt es noch eine geräucherte und marinierte Forelle drüber; «Graved Lachs» nach Tessiner Art. Mit dem Carnaroli-Risotto (Steinpilze, Blüemli) konnten wir uns nicht so recht anfreunden: Zu süss. Unterwürzt.
Osteria mit Standesamt. Kindheitserinnerungen dürfen auch wach werden: Wer «Ricordo d’infanzia» bestellt, kriegt «Spaghettone alla chitarra trafilato al bronzo», mit vier verschiedenen Tomaten in der Sauce. Eine Küche und eine Osteria zum Verlieben. Wer sich echt verliebt, hat auch nicht weit: Das Standesamt von Castel San Pietro ist im Haus. Der örtliche Kinderhort ebenfalls; Federico kocht übrigens für die Kids. - Hübsche Veranda, uralter Weinkeller, mit den besten Flaschen aus der Region. Frühzeitig reservieren!