Text: David Schnapp Fotos: Peter Lueders, Evan Sung

Zeichen der Krise. New York ist noch nicht ganz die alte, von vielen Besuchern aus aller Welt geschätzte Stadt. Nach 16 Monaten Pandemie-Krise ist Manhattan zwar immer noch etwas zu laut, etwas zu schmutzig, und es riecht auch vielerorts noch immer nicht besonders angenehm. Aber insbesondere Hotellerie und Gastronomie sind sichtbar angeschlagen, viele Lokale sind leer oder verschlossen, manche Hotels – auch an bester Lage – haben noch nicht wieder aufgemacht.

 

15000 Anfragen für Juli. Umso erstaunlicher ist, was gerade an der 11 Madison Avenue passiert. Seit dem 10. Juni 2021 serviert Daniel Humm im «Eleven Madison Park» (EMP) ein rein pflanzenbasiertes Menü. Erstmals überhaupt in der Geschichte der gehobenen Gastronomie wird in einem Drei-Sterne-Restaurant ausschliesslich vegan gekocht. Und die New Yorker überfluten das Reservationssystem auf der Suche nach einem Platz im «besten Restaurant der Welt» (2017). Allein für Juli gingen 15'000 Anfragen für Tische ein, jeder Abend ist ausgebucht und auffällig viele bekannte Persönlichkeiten seien seine Gäste, erzählt Daniel Humm.

Daniel Humm/ Eleven Madison

«Ich konzentriere mich voll auf das ‹Eleven Madison Park›»: Daniel Humm.

Humms Weg. Denn was Daniel Humm im EMP angestossen hat, könnte die Haute Cuisine nachhaltig prägen. Keine Missverständnisse: Nur weil Humm jetzt vegan kocht, heisst das nicht, dass in zwei Wochen oder zwei Jahren Top-Restaurants grundsätzlich kein Fleisch und keinen Fisch servieren werden. Darum geht es auch nicht. Aber Humm etabliert sich mit einem Menü, wie es noch nie in der Geschichte zubereitet wurde, gewissermassen im Sternenhimmel der Haute Cuisine. Sämtliche anderen Aktivitäten hat er beendet – abgesehen vom «Davies and Brooks» in London – sein Fokus liegt ganz auf dem neu eingeschlagenen Weg. «Ein Restaurant wie dieses gibt es kein zweites Mal, deshalb konzentriere ich mich ganz darauf», sagt Humm.

 

60 Köche für den Service. Der Aufwand für den neuen Weg ist enorm: Rund 60 Köche (grosses Bild oben) braucht es allein für den Abendservice, ein paar mehr noch für die Vorbereitungsarbeiten am Morgen. Zurzeit ist das EMP nur abends an fünf Tagen die Woche geöffnet. «Ich möchte, dass dasselbe Team permanent zusammenarbeitet, damit es zusammenwächst, und eine hohe Konstanz erreicht», erklärt Humm. Ab Oktober könne er sich vorstellen, wieder wie früher auch Lunch-Services und ausgedehntere Öffnungszeiten anzubieten.

inside Daniel Humm's kitchen/ 11 Madison Park

Viel Arbeit, viele Handgriffe: der Aufwand für das Menü mit zehn Gängen ist enorm.

Veganer Kaviar Gang EMP

Für den «Kaviar»-Gang werden die Samen der Kochia Scoparia in Algenbrühe gegart.

Mühelose Selbstverständlichkeit. Faszinierend ist vom ersten Schluck eines Tomatentees mit Zitronen-Verveine, dass der Aufwand immer zu schmecken, aber kaum zu sehen ist. Mit einer mühelosen Selbstverständlichkeit kommt jeder Gang, jedes kleine Schälchen daher. Und wenn man sich vom Gedanken befreit, zehn Gänge ohne Fleisch, Fisch und andere tierische Produkte zu essen, dann ist dies einfach ein wirklich grossartiges Menü (zu 335 Dollar). Nach dem Tee wird das Tomaten-Thema als eine Art Feier der Sommer-Saison mit einem Salat aus geschälten Cherry-Tomaten, Erdbeeren und Shiso, einem knusprigen, in der Pfanne gebackenem Dosa-Brot mit gelbem Tomatenpulver sowie grünem Tomaten-Relish und einer Pinienkernen-Creme fortgesetzt.

 

Verspielt, frisch, wohlschmeckend. Es folgt ein cremiger Koji-Reispuding mit einer lauwarmen Celtuce-Brühe und knackigen Celtuce-Streifen (chinesischer Salat) als kleines sättigendes Intermezzo, bevor mit der Kombination aus Tonburi, Erbsen und Lattich einer dieser Gänge aufgetragen wird, die das EMP immer schon ausgezeichnet haben: Verspielt, frisch, überraschend und wohlschmeckend. Das Gericht ist im Austausch mit buddhistischen Mönchen aus Japan entstanden und basiert auf den Samen der Kochia Scoparia. Der «Kaviar des Feldes» wird in Japan von Hand ausgelöst und frisch nach New York geliefert. Im «Eleven Madison Park» kocht man ihn in einer Algen-Plankton-Brühe, was ihm einen leicht jodigen, an Kaviar erinnernden Geschmack verleiht. Dazu gibt es knackige, geschälte und kurz blanchierte Erbsen und eine Creme Fraiche auf Basis fermentierter Mandeln sowie Erbsencreme.

 

Innere Struktur. Das ganze Menü hat eine innere Struktur, die auch für die kommenden Saisons beibehalten wird. Dazu gehört der Kaviar-Gang, ein saisonales Gericht (Tomate), ein jeweils monochromes Gericht (zurzeit in Grün) oder grundsätzlich ein frittiertes Produkt. Im Moment ist das eine ausgebackene Peperoni mit Mangold und Pilzen, die man in Salatblätter packt und nach Geschmack mit Paprikacreme, Chilicrunch, gelber leicht säuerlicher Paprika und fermentierter Paprika mit Minze würzt.

Komplexe Bilder. Nach einem monochrom grünen Tatar aus Gurken, Melonen und geräuchertem Daikon-Rettich oder einer ästhetischen Kombination aus verschiedenen Sommerkürbissen (gebraten, blanchiert und als Brühe mit Zitronengras) sowie mariniertem Tofu steht vorläufig fest: Dies ist nicht einfach bloss eine vegane Küche, sondern ein Ereignis. Jedes Gericht setzt sich zusammen aus einer Vielzahl feiner Schichten verschiedener Lagen von Aromen, die in ihrer Gesamtheit ein unerwartetes, hochkomplexes Geschmacksbild ergeben. 

 

Neuer Luxus. Als Luxusgüter in der Gastronomie wurden bis anhin insbesondere Produkte tierischen Ursprungs angesehen. Auf diese Grundlage baut gewissermassen die ganze gehobene Küche. Eine Ausnahme in neuerer Zeit, welche aber letztlich nur diese Regel bestätigt, war Ferran Adrià, der im «El Bulli» Ende der Neunziger Jahre begann, mit enormem technischem und personellemAufwand, Produkte in ihre innere Struktur zu zerlegen, was gemeinhin mit «Molekularküche» bezeichnet wird.

Koeche im Eleven Madison Park

Für den Randen-Gang wird die Knolle geräuchert, getrocknet und im Tongefäss gebacken.

Daniel Humm in der Kueche des Eleven Madison Park

Im Kühlschrank, wo früher die Enten trockengereift wurden, stehen jetzt die Tongefässe mit den Randen.

Eine Rande ist kein Kobe-Entrecôte. Adrià hat zwar Espumas, Fruchtleder und andere Varianten überraschender Texturen geschaffen, aber sein Hauptbeitrag zur Welt der gehobenen Küche war, dass er sie neu gedacht hat. Und das wird wohl auch die Rolle von Daniel Humm sein. Der Schweizer könnte der einflussreichste Koch des kommenden Jahrzehnts werden, ein Bocuse der Moderne. Die Hauptzutaten seiner Küche sind Pflanzen, aber eine Demeter-Rande mag noch so natürlich gewachsen sein und noch so toll schmecken, und selbst wenn sie während des Wachstums mit Mozart-Symphonien beschallt wurde, ist sie nicht vergleichbar mit einem Entrecôte vom Kobe-Rind aus Kagoshima.

 

Mehr Zeit und Kreativität. Die wichtigste Zutat der Zukunft ist deshalb Kreativität, Zeit und Arbeitskraft. Gemüse zu veredeln, so dass es zum geschmacklichen und gesellschaftlichen Erlebnis wird, braucht sehr viel mehr Gedankenarbeit, als ein gutes Stück Fleisch auf den Punkt zu braten und interessant zu kombinieren. Butter und Rahm nicht einfach mit irgendwelchen hochverarbeiteten Soja-Industrieprodukten zu ersetzen, und neue Wege zu finden, um Brühen anders als mit Eiweiss zu klären, ist anspruchsvoll, weil man sich kaum auf Jahrzehnte altes, überliefertes Wissen verlassen kann. In einer pflanzenbasierten Küche ist das Produkt alleine noch nicht viel wert, erst die intensive Beschäftigung damit – verbunden mit dem enormen Aufwand, es aufregend zuzubereiten – macht daraus ein erinnerungswürdiges Gericht.

 

Ereignis aus dem Tongefäss. EMP bleibt EMP, und im Kühlschrank, wo früher die Enten trockengereift wurden, stehen jetzt Tongefässe. Sie verbergen im Innern Randen, die über drei Tage erst geräuchert, dehydriert, anschliessend rehydriert und dann, in Salate und Kräuter gewickelt, in diesem Gefäss gebacken werden. Das Ergebnis ist ein – man muss es so sagen – durchaus an Fleisch erinnernder, reichhaltiger, aussergewöhnlicher Geschmack. Serviert wird die Rande, nachdem sie am Tisch mit einem Hammer aus dem Gefäss befreit wurde, und in Lattich, Kimichi und dünn geschnittener Nashi-Brine eingewickelt wird. Dazu gibt es einen Randen-Rotweinjus, der dunkel, süss, erdig und leicht säuerlich schmeckt.

Daniel Humm mit Mitarbeitern im Eleven Madison Park

Daniel Humm mit seinen beiden wichtigsten Köchen: Mike Pyers (l.) leitet das Kreativ-Team im EMP, Dominique Roy ist der neue Küchenchef.

Aubergine, spektakulär. Eine gebeizte, gebackene Aubergine mit Tomaten und Koriander, Fingeraubergine und gepickelten Radieschen schliesst den salzigen Teil des Menüs ab. Als Beilage gibt es Mais mit Wacholder sowie verschiedene grüne und gelbe Bohnen, wobei diese beiden Zubereitungen die einzigen sind, die nicht restlos überzeugen. Im Vergleich  mit allen anderen Komponenten bisher, schmecken sie zwar gut, aber eher gewöhnlich. Die Aubergine hingegen ist fast wieder spektakulär – viel Umami, leichte Säure und eine erstaunliche geschmackliche Breite.

 

Herausforderung an die Gourmetwelt. Eine leicht geräucherte Erdbeere mit Thymian und ein cremiges Dessert aus Heidelbeeren-Kompott, Yuzu-Creme, kleinen Mochikugeln und einer dünnen Eis-Schicht mit Holunderblüten beendet das erste «Plant based» Menü im «Eleven Madison Park». Daniel Humm fordert – so könnte man es zusammenfassen – die Gourmetwelt heraus, und stellt das tradierte Bild von gutem, luxuriösem Essen in Frage. Das kann manchen durchaus in Verlegenheit bringen. Restauranttester etwa müssen hier neue Bewertungsmassstäbe anlegen. Die bewährte Formel, wonach die Qualität des Produkts, die Technik der Zubereitung und das Herausarbeiten einer eigenen Handschrift beurteilt werden, gilt nicht mehr. Anstelle des luxuriösen, tierischen Produkts tritt die Kreativität, die Kraft der Ideen und ein neues Verständnis von Geschmacksbildern.

 

Aufregende Zeiten. Insofern stehen uns aufregende Zeiten in der gehobenen Gastronomie bevor, und ein Schweizer Koch, der einst mit nichts als zwei Koffern und einigen Messern in die USA ausgewandert ist, könnte sie für immer verändern. «Eleven Madison Park» von Daniel Humm ist zurzeit das wichtigste Restaurant der Welt.