Text: David Schnapp I Fotos: Joan Minder
Unterwegs mit dem Zirkus Monti. Als «emotionale Achterbahnfahrt» wird Daniel Humm im Verlaufe des ersten Tages diese Reise in die Vergangenheit bezeichnen. Wir befinden uns auf einem zweitägigen Kurztrip zurück zu seinen Anfängen und Wurzeln durch ein Land, das ihn zwar in seinem Selbstverständnis als Koch geprägt hat, aber dennoch schnell zu klein für ihn wurde. Kreativer Freigeist war vermutlich immer ein bestimmender Teil von Daniel Humms Persönlichkeit. Schon während der Primarschulzeit zog er mehrere Wochen mit dem Zirkus Monti durchs Land, verkaufte Popcorn, mistete bei den Tieren aus und besuchte mit den anderen Zirkuskindern den Unterricht. (Grosses Bild oben: Daniel Humm an einem alten Arbeitsplatz: Hotel Baur au Lac in Zürich)
Von Zürich nach Schinznach-Dorf. Als Humm etwa zwölf Jahre alt war, zogen die Eltern mit ihrem bis dahin einzigen Kind von Zürich nach Schinznach-Dorf im Kanton Aargau und begannen ein neues Einfamilienhausleben. Im Laufe der folgenden Jahre kamen drei Geschwister zur Welt. Die Entwurzelung, der erzwungene Abschied von Freunden und einer vertrauten Umgebung sollten bei Daniel Humm auch zu einer gewissen Entfremdung von der Familie führen. Er rebellierte in der Schule und wurde psychologisch abgeklärt, weil er sich weigerte, ein Hochhaus auf die seiner Meinung nach zu geringen Dimensionen eines Blatt Papiers zu beschränken, und es stattdessen über das Blatt hinaus auf den Tisch malte.
Radikaler Bruch. So ist Humms Geschichte – wenn man sich auf die dünnen Äste der Küchentischpsychologie hinauswagen möchte – auch die Geschichte eines jungen Mannes, dem durch die Unberechenbarkeit des Lebens der Boden unter den Füssen weggezogen wurde und der dann, im Sport, in einem Handwerk und schliesslich durch einen radikalen Bruch mit dem Bestehenden, alles hinter sich zu lassen vermochte, was ihn eingeengt und zurückgehalten hatte. Humm fand am Ende in Amerika einen angemessenen grosszügigen Resonanzraum für die Kühnheit seiner Ideen, aber auch eine neue Heimat.
Biss auf dem Velo. Nun fahren wir wieder nach Schinznach-Bad, Daniel Humm trifft im Kurhotel auf den Mann, der als väterliche Führungsfigur einen Beitrag dazu leistete, dass der damals erst 14-Jährige seine vielschichtigen Fähigkeiten und seine kreative Kraft kanalisieren konnte, um einen Beruf zu erlernen. Der Bauernsohn Viktor Geiser ist heute 67 Jahre alt und hat in seiner Karriere rund 40 Kochlehrlinge ausgebildet. «An die Arbeit mit dir habe ich gar nicht so viele Erinnerungen», sagt er zu Humm bei einem Kaffee im Garten. «Aber dass du während der Zimmerstunde mit dem Velo um den Zugersee gefahren bist, hat mir gezeigt, welchen Biss du hast.»
Punkband «Dreck». Für Heiterkeit sorgt die Erinnerung an ein Personalfest, wo Humm als Bassist mit seiner Punkband «Dreck» auftreten konnte. «Nachdem ihr zu spielen begonnen hattet, war der Saal innerhalb von wenigen Minuten leer», erzählt Geiser mit einem freundlichen Schmunzeln. Heute kann auch Daniel Humm den komischen Aspekt dieser Episode sehen, damals sei es eine niederschmetternde Erfahrung gewesen, die alles infrage gestellt hätte. «Nach diesem Auftritt war Dani völlig am Boden, ich musste mehrere Stunden lang mit ihm reden, damit er die Lehre nicht aufgab. Dass mir das gelungen ist, macht mich heute ein wenig stolz», sagt Viktor Geiser.
Schweizer Bestnote. Nach dem vorzeitigen Abgang von der Schule und dem Beginn der Lehre zog Humm bald zu Hause aus und bei seiner Freundin in Zürich ein. Zwei Monate nach dem Lehrabschluss als Koch 1995 – mit einem der landesweit besten Notendurchschnitten von 5,9 – kam Tochter Justine zur Welt. Humm musste früh Verantwortung übernehmen und gleichzeitig seine Rolle als Koch und als junger Vater finden. Es gab Phasen in seinem frühen Berufsleben, in denen nicht klar war, ob der sportlich begabte Humm nicht Veloprofi werden würde. Humm fuhr Mountainbike, Strassen- und Radquer-Rennen. Während er in einer Band ein Ventil für seinen kreativen Drang fand, wurde das Velo zu einem Medium der Flucht oder vielleicht vielmehr noch zum Transportmittel einer langen, bisweilen schmerzhaften Reise zu sich selbst, die Daniel Humm bis heute noch nicht ganz abgeschlossen hat: «Es konnte vorkommen, dass ich früh um fünf von zu Hause startete, an den Bielersee fuhr und spätabends, nach 250 Kilometern auf dem Rad, wieder zurückkam», erzählt er. Erst kürzlich hat er den Boston Marathon in zwei Stunden und 55 Minuten absolviert. Und mit der Mentalität eines Sportlers, der jeden Wettbewerb gewinnen will, bei dem er antritt, ging Humm auch den ersten, rund zwei Jahrzehnte dauernden Abschnitt seiner Karriere an.
Kreativität als Stärke. Nach der Lehre eignete sich der Jahrgangsbeste innerhalb weniger Jahre auf verschiedensten Stationen alle Fertigkeiten eines grossen Kochs an, auch wenn Humm heute sagt: «Ich war nie der Beste im Umgang mit Küchentechniken oder Produkten. Meine Stärke war immer schon die Kreativität.» Allerdings haben gute Ideen – gerade in der Küche – mit Vorteil auch eine handwerkliche Grundlage. Angezogen von der Welt der Grandhotels, arbeitete Humm im Hotel Baur au Lac in Zürich, wo sich Maurice Marro heute an einen «Kopf voller Ideen» erinnert. Der Executive Chef ist seit 35 Jahren im Haus. Über Humm sagt er, er habe schon als junger Koch zu den Leuten gehört, «die einem in Erinnerung bleiben».
Suppenkoch im «Tschuggen». Von Zürich geht es nach Arosa. Die angeblich 365 Kurven von Chur hinauf ins Bergdorf hat Daniel Humm natürlich mehrfach mit dem Rennvelo gemeistert, aber oben, im «Tschuggen Grand Hotel», lehrte ihn der mittlerweile verstorbene Küchenchef Otto Limacher mit bisweilen eruptiver Strenge noch mehr Disziplin. «Manchmal ging er durch die Küche und wurde bei jedem Koch sehr laut. Ich hatte Glück, dass er mich bald mochte. Aber ich gab auch meine ganze Energie und all mein Können in einen Hundert-Liter-Topf Suppe, wenn das meine Aufgabe war», erzählt Humm.
Freunde in Weiss. Eine andere Art von rigidem Führungsstil erlebte Humm bei Gérard Rabaey, der im Jahr 2000 mit dem «Pont de Brent» eins von nur zwei Drei-Sterne-Restaurants der Schweiz führte. Nun stehen die beiden Freunde in Weiss wieder in der Küche, in der der junge Daniel Humm harte Lektionen in Disziplin und fast schon neurotischer Genauigkeit gelernt hat: «Rabaey wusste auf den Pilz genau, wie viele Pfifferlinge sich noch im Kühlschrank befanden», erzählt Humm. Und Rabaey sieht heute seine damalige Härte durchaus selbstkritisch. «Ich war sehr strikt, Regeln waren wohl zu wichtig für mich.»
«Sehr sehr, harte Zeit.» Zu den Ritualen in der Küche gehörte es beispielsweise, dass jeder Koch am Morgen sämtliche Produkte zusammensuchen musste, die er für sein Mise en Place brauchte. «Danach wurde der Kühlschrank abgeschlossen; wer etwas vergessen hatte, wurde auf schmerzhafte Weise diszipliniert», erinnert sich Humm. «Die Zeit hier in der Westschweiz war zwar sehr, sehr hart, hat aber mein Leben verändert und mir letztlich ermöglicht, mit meinem Beruf Erfolg zu haben.»
Entdeckung in der «Chrone». Mit nur 24 Jahren, nach einer Zwischenstation beim chaotisch-cholerischen Nick Gygax im «Löwen», Thörigen BE, wird Daniel Humm 2002 Entdeckung des Jahres mit 15 Punkten. GaultMillau-Chefredaktor Urs Heller schreibt damals: «So viel Sinn für Leichtigkeit, für Harmonien und so viel Fingerfertigkeit im Detail hätten wir von einem Koch bei seinem ersten Chefposten nicht erwartet.» Im Wirtshaus zur Chrone in Mesikon bei Illnau ZH, wo heute statt des historischen Gasthofs eine Wohnbebauung steht, hatte Humm am Nachmittag vor dem Besuch Hellers noch Pastateig zubereitet. «Ich spürte irgendwie, dass dieser Tag mein Leben verändern würde», sagt er 20 Jahre später. Aus der Pasta wurde eine offene Lasagne, die Humm mit Langustinen und einer Krustentiersauce füllte, die er wiederum mit Hummerrogen gemixt und gebunden hatte.
Ambitionen im Appenzell. Als nächstes wechselte Humm auf den «Gupf» in Rehetobel AR, wo der Unternehmer Migg Eberle mit Walter Klose als Küchenchef ein ambitioniertes Projekt gestartet hatte. Der Büromöbelfabrikant hatte im pittoresken Nirgendwo in den Appenzeller Hügeln ein altes Bauernhaus zum Restaurant umgebaut und einen der spektakulärsten Weinkeller des Landes hinzugefügt. Und er hatte noch grössere Pläne: Der talentierte Jungkoch sollte ihm dabei helfen, den «Gupf» zum besten Restaurant der Schweiz zu machen. Klose musste deshalb seinen Posten räumen.
Zurück auf dem «Gupf». Wieder zurück auf dem «Gupf», «in einem der schönsten Restaurants, die ich je gesehen habe», trifft Daniel Humm nun erstmals überhaupt Walter Klose. Der gebürtige Bayer blickt trotz seines damaligen erzwungenen Abgangs mittlerweile auf 24 Jahre Geschichte an diesem bemerkenswerten Ort zurück. Der Hausbesitzer holte Klose später zurück, dank seiner 17-Punkte-Wohlfühlküche sind Restaurant und Hotel seither fast durchgängig ausgebucht. Es ist eine herzliche Begegnung zweier Köche mit Lebensgeschichten und Stilen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Ein Spanferkel für Amerika. Aber Klose hat in seiner Bibliothek sogar noch zwei alte Menükarten aus der kurzen Humm-Ära aufbewahrt: «La Côte de Porcelet de Gupf et L’Atriau aux Légumes d’Eté» wurde als Hauptgang im Menü Degustation serviert. Das Spanferkelgericht begleitete Humm später nach Amerika; in Entenfett konfiert, wurde das bodenständige Stück Fleisch schliesslich in New York zum Drei-Sterne-Ereignis. Zu Walter Klose sagt Humm: «Ich war eigentlich der falsche Koch für den ‹Gupf›, du passt viel besser hierher.» Die Erkenntnis kam wohl auch Migg Eberle, als Humm von dem Schweizer Hotelier Paul Züst das Angebot erhielt, in San Francisco die Verantwortung für die Küche im Fünf-Sterne-Hotel «Campton Place» zu übernehmen. «Die Schweiz ist zu klein für dich, du musst nach Amerika gehen», habe Eberle gesagt.
Trennung und neues Leben. Nach der Trennung von seiner Jugendliebe und dem Ruf aus den USA beschloss Humm buchstäblich, seine Messer zu packen. Denn vielmehr als sein Arbeitswerkzeug und etwas Kleidung hatte er in den beiden Koffern nicht dabei, mit denen er 2003 die Schweiz verliess. Englisch sprach er nicht, aber Daniel Humm hatte und hat bis heute einen unbedingten Mut zum Risiko. Den Willen, alles infrage zu stellen – selbst den eigenen Erfolg und sowieso die persönliche Komfortzone. Mehrfach in seinem Leben hat Humm sein bisheriges Leben zurückgelassen und neu angefangen.
Zirkus der Köche. Vielleicht gibt es eine Parallele zwischen dem zehnjährigen Daniel, der mit einem Zirkus durchs Land reiste und dem Koch, der auszog aus der Schweiz und erst die USA und dann die ganze Welt eroberte mit Geschmack, Humor und Kreativität. Ein wenig gleicht die Kochszene ja durchaus einem Zirkus: Köche packen immer öfter ihre Messer, treten an entfernten Orten auf, um neue Gäste zu gewinnen. Aber noch etwas wird auf dieser Reise in die Vergangenheit klar: So sehr Daniel Humm die sprichwörtlichen unbegrenzten Möglichkeiten der Vereinigten Staaten ihm Chancen eröffneten, so sehr hat ihn gleichzeitig eine solide Schweizer Berufsausbildung auch die Bodenständigkeit gelehrt, die ihn davor bewahrte, sich auf der Suche nach sich selbst zu verlieren.
>> Dieser gekürzte Text stammt aus einer Special Edition des GaultMillau Magazins über Daniel Humm. Wir haben den Starchef zudem in New York besucht, zum Gespräch in seinem Büro getroffen und Zeit in der Küche des «Eleven Madison Park» verbracht. Jetzt mit der «Schweizer Illustrierten» am Kiosk.