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Marco Campanella, was hat Sie mehr mitgenommen: die Geburt Ihrer Tochter oder die Ernennung zum «Koch des Jahres»?

Das kann man nicht vergleichen, beides sind sehr emotionale Ereignisse. Im Moment bin ich emotional ziemlich überwältigt. Diesen Tag mit meiner Familie, meinen Eltern, meinem Bruder und dem Team feiern zu können, ist unfassbar. 
 

Haben Sie schon realisiert, was gerade passiert ist?

Nein, überhaupt nicht. Ich weiss, dass es sehr wichtig ist, aber das alles wird mir erst nach und nach bewusst. Ich versuche meine Nervosität zu unterdrücken. Vor dem Dinner für die 19-Punkte-Chefs am Sonntag war ich mit meiner Tochter Enola zu Hause, habe ihr vorgelesen und bin dann um 22 Uhr neben ihr eingeschlafen. In der Nacht zum Montag habe ich hingegen fast kein Auge zugemacht.
 

Warum nicht?

Der Abend war lang, ich sass noch mit meinen Kollegen in der Bar und war erst um 2 Uhr im Bett. Um 4.20 Uhr stand ich wieder in der Küche und habe die Körbchen und Tacos für die Amuse-Bouches frittiert. Geschlafen habe ich also nicht viel, das war eher so ein Power Nap (lacht).  
 

Koch des Jahres Guide GaultMillau 2025 - Marco Campanella

«Es war eine lange Nacht»: Marco Campanella beim Anrichten für das Dinner der 19-Punkte-Chefs am Sonntag.

Das Frittieren könnten Sie doch einem Ihrer Kollegen überlassen.

Ich mag die Ruhe am Morgen in der Küche. Das gibt mir Gelegenheit, mich zu sammeln. 
 

Sie steigen in die Top-Liga der 19-Punkte-Köche auf, wie finden Sie das?

Das macht mich sprachlos. Mein erster Reflex war, dass es andere mehr verdient haben als ich. Das ist vielleicht eine Schwäche von mir, es fehlt mir in solchen Situationen an Selbstbewusstsein. Das heisst nicht, dass ich nicht überzeugt bin von dem, was wir machen. Ich habe zwar grosse Ziele, aber mir war auch immer bewusst, dass es manchmal Jahre braucht, um sie zu erreichen. Etwas zu sehr zu wollen, kommt nicht gut. Das war eine wichtige Lektion, die mich mein Vater gelehrt hat.
 

Was bedeuten Ihnen Titel und Bewertungen?

Diese Auszeichnungen machen mich sehr stolz, aber ich bekomme sie nicht allein. Ich muss vielen Leuten dafür danken. Es geht um Kontinuität, deshalb sind meine Köche so wichtig. Nur wenn das Team stabil ist, kann man Höchstleistungen erbringen. Und ich konnte viel mitnehmen von meinen Lehrmeistern Andreas Caminada, Rolf Fliegauf, Ivo Adam, Martin Dalsass und Rolf Krapf. 
 

Mit 19 Punkte sind Sie am oberen Ende der Skala angelangt – was nun?

Das kann erst der Anfang sein. Was ich von Leuten wie Andreas Caminada gelernt habe, ist die Wichtigkeit konstanter Weiterentwicklung. Ich will auf keinen Fall stehen bleiben, deshalb muss ich immer wieder darüber nachdenken, was auf einem Teller wichtig ist und was nicht. 
 

Ihr Auftritt ist zurückhaltend, bescheiden und entspricht nicht dem Küchenchef-Klischee. Können Sie auch ganz anders? Wie?

Heute sind als Chef menschliche Qualitäten wichtig. Ich versuche, locker und freundlich zu sein. Aber wenn jemand zum dritten Mal dieselbe Frage stellt, kann ich auch mal deutlich werden. Ich bin jedoch nicht nachtragend, am nächsten Tag ist das vergessen. Was mich ärgert, sind Fehler oder mangelnde Konzentration. Und wenn ein Teller nicht perfekt ist, richte ich ihn neu an, da bin ich kompromisslos.
 

Marco Campanella

Elegant: Kalbstatar mir Sardine, Gurke und Crème Fraîche an einem Gurkensud.

Marco Campanella

«Es geht um Kontinuität»: das «La Brezza»-Team aus der Küche mit Gastgeberin Kathrin Wilhelm.

Marco Campanella

Vegan kann er auch: Geschmorter Kohlrabi mit Sonnenkernen-Miso, frischem Meerrettich und Trüffel-Vinaigrette.

Wie wollen Sie als Chef sein?

Als ich 2018 mit 26 Jahren Küchenchef wurde, wusste ich wenig über Führung. Mit der Zeit habe ich gelernt, die Leute besser zu verstehen und einen eigenen Stil zu entwickeln. Ich möchte kein Manager sein, sondern ein Leader, der mit anpackt. Ich bin der Erste, der auf die Knie geht und den Deckel des Ablaufs im Küchenboden putzt.
 

Marco Campanella

«Vater zu sein ist Neuland für mich»: Campanella mit Ehefrau Sara und Tocher Enola (2).

Sie haben eine zweijährige Tochter: Was haben Sie sich als Vater vorgenommen?

Vater zu sein, ist für mich Neuland, da kann man sich nicht viel vornehmen. Jedes Kind ist anders. Ich selbst war ein kleiner Teufel und habe im Restaurant meiner Eltern, ohne zu fragen, Eis und Fanta an Freunde verteilt. Bevor ich zur Arbeit gehe, spiele ich mit meiner Tochter Enola, meistens besucht sie mich dann während des Abendservice, holt eine Grissini-Stange und sagt allen Hallo. 
 

Wovon träumen Sie?

Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf mit der Angst, eine Sauce auf dem Herd vergessen zu haben. Kürzlich habe ich davon geträumt, dass ein Gast mein Essen nicht gut fand, und bin schweissgebadet aufgewacht. Vor allem, wenn alle zwei Monate der Menüwechsel ansteht, bin ich sehr unruhig und denke viel nach.
 

Kennen Sie die Angst, dass Ihnen nichts mehr einfällt?

Als meine Tochter vor zwei Jahren auf die Welt kam, hatte ich ein Kreativitäts-Blackout. Mein Fokus lag komplett auf diesem Ereignis, ich hatte auch damals wenig Schlaf, weil ich meine Frau Sara unterstützen wollte. In der Küche hat die Geduld mit mir selbst gefehlt, ich war ohne Ideen und enttäuscht, weil ich alte Gerichte wieder servieren musste. Mein Bruder Tommaso hat mich beruhigt und gesagt, ich müsse mich ja nicht ständig verändern. Nach zwei Monaten war dann alles wieder in Ordnung.
 

Wie denken Sie darüber im Rückblick?

Es braucht solche Momente, in denen etwas nicht funktioniert, um weiterzukommen. Diese Erfahrung hat mir gutgetan. Mit meiner Frau habe ich damals viel gesprochen. Wir sind seit zwölf Jahren zusammen, ihre Unterstützung ist unglaublich wertvoll.
 

Wie kommen Sie eigentlich von der Idee zu einem Gericht?

Ich habe etwas im Kopf und stehe dann in der Küche mit 20 Zutaten um mich herum. Das sieht chaotisch aus, und manchmal funktioniert es auch nicht, wie ich es mir vorgestellt habe. Aber wir helfen uns im Team gegenseitig. Es ist wichtig, dass nicht einer allein entscheidet, ich will ein Leader sein und kein Manager.
 

>> Marco Campanella (geb.1992) ist in Immenstaad am Bodensee aufgewachsen, wohin seine Eltern aus Apulien ausgewandert waren. Die Familie führte jahrelang das Ristorante La Mezzaluna. Seine Lehre machte Campanella im Hotel Krone in Schnetzenhausen, einem Familienbetrieb mit klassischer schwäbischer Küche. Seit 2018 ist er Küchenchef des Restaurants La Brezza – im Sommer im Fünf-Sterne-Hotel Eden Roc in Ascona, im Winter im Tschuggen Grand Hotel in Arosa. Beide gehören zur Tschuggen Collection der Familie Bechtolsheimer-Kipp.

 

Fotos: Joan Minder, Adrian Bretscher