Text: David Schnapp

Der globale Koch. Alain Ducasse betritt den Raum mit Schwung, nimmt selbstverständlich am Kopf des Tisches Platz und legt sein iPhone hin. Mit Ducasse einen persönlichen Termin zu bekommen, ist für einen Autor auf dem weiten Feld der kulinarischen Themen ein wenig, als würde ein Rockmusik-Fan von Mick Jagger auf dessen Landsitz in England empfangen werden. Ducasse, der weltweit tätige französische Cuisinier und Unternehmer hat das Prinzip des globalen Kochs, der nicht mehr selber am Herd steht, miterfunden und perfektioniert. Zurzeit gehören zu seinem gastronomischen Imperium zwei Drei-Sterne-Restaurants in Monaco und London. Dazu betreibt er viele weitere einfachere Konzepte von Dubai bis Kyoto, er hat oder hatte Restaurants im Libanon oder in New York und verbringt etwa die Hälfte seines Lebens im Flugzeug.

Alain Ducasse Le Meurice

Ein halbes Leben im Flugzeug: Alain Ducasse in seinem Restaurant Le Meurice im Herzen von Paris.

Im Herzen von Paris. Mit seinem «Grand Livre de Cuisine» hat er ein Standardwerk im Kochbuchregal veröffentlicht, und Ducasse ist ausserdem ein Pionier der Gemüseküche. Schon Ende der 80er Jahre gab es in seinem ersten Drei-Sterne-Restaurant Le Louis XV in Monaco ein vegetarisches Menü. Ducasse plädiert seit langem für eine «Naturalité» – mehr Gemüse und Getreide, wenig Fisch, kaum Fleisch –, was gesünder für den Menschen und besser für den Planeten sei. Das Treffen findet am Chef’s Table des «Le Meurice» (zwei Sterne, 16.5 Punkte) im Herzen von Paris statt. Durch das Einweg-Fenster sieht man die Köche den Service vorbereiten, und wir wollen mit Ducasse unter anderem über Daniel Humm sprechen, den er kürzlich in der Küche des «Eleven Madison Park» besucht hat (grosses Bild oben) und vor dem er, wie er während des Gesprächs mehrfach mit einer unzweideutigen Geste unterstreicht, den Hut zieht.

Le Louis XV Monaco

Wie eine Theater-Inszenierung: «Le Louis XV» im l'Hôtel de Paris in Monaco.

Team Le Louis XV

«Es geht um die perfekte Umgebung»: Ducasse mit seinem Team im «Le Louis XV».

Alain Ducasse, lassen Sie uns zuerst einen Begriff definieren: Was ist eigentlich «Haute Cuisine»?
Die Haute Cuisine ist die Gesamtheit der Einzelteile, die daran beteiligt sind. Es geht um eine perfekte Umgebung, Porzellan, Kristall, die richtige Temperatur der Weine, die Harmonie zwischen den Speisen und den Weinen… Wenn Sie ein Gericht der Haute Cuisine in irgendeiner Ecke essen, hat es nicht dieselbe Wirkung wie in einer abgestimmten Ökonome. Haute Cuisine ist eine Inszenierung.


Ein gutes Gericht alleine ist noch nicht unbedingt Haute Cuisine?
Nein, das ist nicht genug. Wie zu jeder Inszenierung geht es auch um das Bühnenbild. Denselben Hummer an zwei unterschiedlichen Orten serviert, ergibt unterschiedliche Wahrnehmungen.


Welche kulturelle, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Bedeutung hat die Haute Cuisine?
Die Haute Cuisine ist wie die Haute Couture. Es wird immer Haute Couture und immer Haute Gastronomie geben. Die Haute Cuisine trägt dazu bei, die gesamte Industrie zu befruchten, die sich Gastronomie nennt. Die Haute Couture trägt dazu bei, die Gesamtheit einer Industrie zu beeinflussen, die sich Mode nennt. Die Haute Cuisine ist gewissermassen die sichtbare Seite eines Eisbergs. Ein Eisberg ist das, was herausragt, aber darunter sind 95 Prozent. Ich erkläre das oft, aber es versteht leider nicht jeder.
 

Ducasse BBR

Ein halbes Leben unterwegs: «BBR by Alain Ducasse» im Hotel Raffles in Singapur.

Fragola e pistacchio

Mediterrane Küche für die Welt: Erdbeeren und Pistazien im «BBR by Alain Ducasse».

Und auf welcher Höhe des Wassers sind Sie als Koch und Unternehmer tätig?
Ich bin in der gehobenen Gastronomie tätig, aber der grösste Teil meines Geschäfts liegt darunter. Die Spitzengastronomie ist dazu da, die Marke zu positionieren. Sie ist das, was glänzt. Auch wenn ich zurzeit 21 Sterne habe, machen sie weniger als 20 Prozent meines Geschäfts aus. 


Themenwechsel: Sie waren kürzlich in New York bei Daniel Humm und werden demnächst mit ihm einige Dinner in Paris veranstalten. Wie lange verfolgen Sie seine Karriere schon?
Daniel Humm bin ich erstmals um etwa 2006 herum begegnet, als er Küchenchef in der damaligen Brasserie Eleven Madison Park von Danny Meyer wurde und dort noch Steak und Pommes Frites serviert wurden. Und zunächst einmal ist Daniel ein hervorragender französisch-schweizerischer Haute-Cuisine-Koch. Er ist ein herausragender Vertreter der gehobenen Gastronomie. Bevor er ein veganer Spitzenkoch wurde, ist er ein Spitzenkoch, und was er heute in New York macht, ist vegane Haute-Couture. 


Basiert das, was Daniel Humm heute macht, auf französischer Küche?
Man verwechselt gern französische Küche und französischen Geschmack. Daniel muss kein Boeuf Bourguignon zubereiten, er braucht nicht den französischen Geschmack für seine Arbeit. Die französische Küche ist für Daniel vielmehr die DNA. Sie steht für Strenge, Disziplin, Anspruch, Methode und Reduktion. Daniel kocht in New York in französischen Kupferpfannen auf einem französischen Herd und in einem französischen System. 

Ye Fan

«Vegane Haute Couture»: Alain Ducasse mit Daniel Humm und Küchenchef Dominique Roy (l.) in der Küche des «Eleven Madison Park» in New York.

Sie plädieren selbst seit langem für mehr Gemüse und Getreide sowie weniger Fleisch. Können Sie sich mit der Idee einer veganen Haute Cuisine anfreunden?
Ich habe 2014 in meinem damaligen Drei-Sterne-Restaurant Plaza Athenée die «Naturalité» eingeführt – auf dem Menü standen Gemüse, Getreide, Fisch. Fleisch und Geflügel haben wir hingegen nicht mehr serviert. Aber Daniel Humm hat entschieden, den Steak-Freunden in New York ein rein veganes Menü zu servieren. Das ist radikal, dafür muss man ein bisschen rücksichtslos und sehr mutig sein. Nur mit einer starken inneren Überzeugung, kann man einen solchen Schritt wagen.


Wäre so etwas auch anderswo, zum Beispiel in Paris denkbar?
Daniel Humms Küche ist radikal, und obwohl New York eine Weltstadt ist, wird es nicht Millionen von Gästen geben, die im «Eleven Madison Park» essen. So wie es nicht Millionen von Kunden für die Haute Couture der grossen Modehäuser gibt. Und diese Küche bedeutet viel Arbeit. Denn um Gemüse aufzuwerten, muss man extrahieren, man muss kochen, man muss braten, man muss pochieren, man muss geschickt mit Bitterstoffen und Säuren umgehen. Vegane Küche ist sehr viel aufwendiger als traditionelle Küche. Ansonsten gilt: Ein Lauch bleibt ein Lauch. Ein Spargel bleibt ein Spargel. In der klassischen französischen Küche serviert man den Spargel mit einer grossen Sauce, man gibt Trüffel und Flusskrebse dazu. Aber am Spargel selbst ändert sich nichts. Wenn man also die peripheren Zutaten weglässt, ist es keine grosse Küche mehr. 


Wie hat Ihnen die Gemüseküche in New York geschmeckt?
Daniel Humm hat mir eine Artischocke in verschiedenen Strukturen, Konsistenzen, knusprig und weich serviert. Das war aussergewöhnlich. Auch wie in seiner Küche mit Pilzen, Algen und Gemüse gearbeitet wird, um in die Tiefe der Schmackhaftigkeit zu gelangen, hat mich beeindruckt. Ich weiss, wie viel Arbeit das ist und ziehe meinen Hut davor.
 

Fried Kabocha Squash with Preserved Habanada Pepper and Spinach

«Das hat mich beeindruckt»: Kabocha-Kürbis mit eingelegten Habadada-Paprika und Spinat im «Eleven Madison Park».

Okra Tempura

Okra-Tempura mit Gurken und Basilikum aus dem Sommermenü im «EMP»

Frau Minister am Telefon. 40 Minuten später muss «Le Chef» weiter, zuvor gilt es aber noch eine Angelegenheit von nahezu staatspolitischer Tragweite zu klären: Die Frau des früheren Kulturstaatsminister Jack Lang ruft an. Sie braucht dringend einen Tisch für den 80. Geburtstag ihres Mannes. Alain Ducasse macht ein paar Anrufe, gibt kurze knappe Anweisungen, erkundigt sich zwischendurch nochmals bei Madame nach den Präferenzen für die Torte – Früchte oder Schokolade? – und hat in wenigen Minuten alles organisiert. «Lang hat viel für die Gastronomie getan, da kann ich nicht «Nein» sagen, erklärt Ducasse. 


Etwas Glace zum Schluss. Auf dem Weg hinaus in die Rue de Rivoli stoppt «Le Chef» bei einem kleinen Eiswagen vor dem Luxushotel Le Meurice. Alain Ducasse hat in Paris eine Schokoladen- und Kaffee-Manufaktur und auch Eis in hervorragender (Geschmacks-)Qualität kommt aus eigener Herstellung. Er besteht darauf, dem Gast aus Zürich noch einen Becher mit drei Sorten mitzugeben: Pistazien, Vanille und Tamarinde. Die kleine Geste zeigt einerseits einen vollendeten Gastgeber und ist zum andern ein Beleg dafür, dass alles, was der 67-jährige Franzose anpackt, auf dem jeweiligen Gebiet aussergewöhnlich ist.

>> In einer Special Edition des GaultMillau Magazins schreibt Alain Ducasse eine Hymne auf Daniel Humm. Ab 6. Oktober 2023 am Kiosk.

>> Am 1. und 2. Februar 2024 ist Daniel Humm zu Gast im «Le Meurice Alain Ducasse» in Paris und kocht an zwei Abenden ein veganes Menü.
Am 22. und 24. Februar werden «Meurice»-Küchenchef Amaury Bouhours und Alain Ducasse wiederum dem «Eleven Madison Park» einen Gegenbesuch abstatten und in New York ein Gemüse-Menü servieren.

 

Fotos: Yè Fan, Evan Sung, HO