Text: David Schnapp | Fotos: Claudia Link
Bewundernswerter Fleiss. Rund eine halbe Million Bienen – so ganz genau kann das natürlich niemand zählen – sind im Garten der Villa René Lalique im elsässischen Wingen-sur-Moder gerade mit bewundernswertem Fleiss an der Arbeit. Imker Pierre Stephan zieht einen der Holzrahmen aus dem Stock und erklärt, wie die Insekten erst die Waben anlegen, sie dann mit Honig füllen und schliesslich die Gefässe mit einer dünnen, aber festen weissen Wachsschicht verschliessen. Mit dem kleinen Finger drückt Stephan die Wachsschicht auf, sofort fliesst dick und vielversprechend Honig in glitzerndem Gelbgold aus den Waben. Der Imker probiert, reicht den Rahmen weiter und während die Besucher den süssen würzigen Nektar des Waldes ebenfalls probieren, können sie gleichzeitig beobachten, wie die Bienen sich unverzüglich daran machen, die von Menschenhand zerstörten Gefässe wieder instand zu stellen.
Gutes Honig-Jahr. Zehn bis elf Völker leben und arbeiten im Garten des Fünf-Sterne-Hotels mit Zwei-Sterne-Restaurants und heuer sei ein besonders gutes Honig-Jahr, sagt Pierre Stephan. Seit 22 Jahren beschäftigt sich der Imker mit dem süssen Gold der Bienen, den er im Auftrag von Küchenchef Paul Stradner unter anderem hier im Villa-Garten im Schatten einer alten Linde produziert. Der 41-jährige Stradner lenkt seit 2017 die Geschicke des Restaurants Villa René Lalique und hat es sich zur Aufgabe gemacht, eine sinnvolle Verbindung zwischen seinen Gerichten und dem Terroir des Elsass’ herzustellen. Während der Gast im Restaurant-Neubau von Mario Botta sitzt und durch die grossen Fenster in die Landschaft hinausblickt, hat er das Elsässer Naturpanorama vor Augen, das gleichzeitig sozusagen auf dem Teller vor sich wiederzufinden ist.
Das lustige Trio im «Maison du Gibier». Paul Stradner nimmt uns mit auf einen faszinierenden Rundgang durch eben diese Natur – und zu unterschiedlichsten Leuten, die mit grosser Hingabe, solidem Handwerk und vielleicht einer Spur von Verrücktheit ihren völlig unterschiedlichen Tätigkeiten nachgehen. Da ist beispielsweise das lustige Trio im «Maison du Gibier» in Ingwiller, das der frühere Bauunternehmer und leidenschaftliche Jäger Gerard Durmeyer gegründet hat. Der vom Collège Culinaire de France zertifizierte Betrieb ist eine Art hochwertige Drehscheibe mit erstklassiger Metzgerei für Rehe, Hirsche oder Wildschweine.
Wild ist Vertrauensfrage. Unter kompromisslosen Hygienestandards und bei höchstens 7 Grad Temperatur wird das Wild schrittweise in verschiedenen Kühlräumen gehäutet, zerlegt und schliesslich verpackt oder weiterverarbeitet. «Nose to tail» ist hier eine Selbstverständlichkeit, im «Maison» werden auch Terrinen, Trockenfleisch oder Salami hergestellt. Für Starchef Paul Stradner ist Wild eine Vertrauensfrage: «Wenn ich Fleisch von einem Zwischenhändler kaufe, weiss ich nicht genau, woher es kommt. Hier kenne ich die Betreiberfamilie, die kennt wiederum ihre Jäger, und das ist für mich entscheidend. Und die Qualität ist unvergleichlich: «Wenn das Fleisch bei uns im Restaurant eintrifft, ist es seit der Jagd nicht mehr als vier Tage her – frischer bekomme ich das nirgendwo.»
Vielfältige Verbindungen. In seinem 17-Punkte-Restaurant serviert Paul Stradner ein Terroir-Menü mit vielfältigen Verbindungen in die Region: Zum Start gibt es unter anderem ein kleines knuspriges Kartoffel-Tartelette mit Bärlauch-Gel und einem unglaublich guten, leicht rauchigen Hirsch-Rohschinken. Dazu serviert Lalique-Weindirektor Romain Iltis den Elsässer Sylvaner Rosenberg 2020 aus dem Haus Barmès Buecher. Der Buchautor und Meilleur Ouvrier de France hat es sich zur Aufgabe gemacht, traditionelle Elsässer Sorten in Top-Qualität aufzuspüren und auszuschenken. Weder der hochbegabte Sommelier Iltis noch Küchenchef Stradner sind allerdings Dogmatiker, regionale Produkte sind vielmehr der rote Faden, der sich fein durch das Menü zieht: Die Schnecken in einer Petersilien-Meerrettich-Sauce mit Kartoffelnudeln etwa liefert Antoinette Christ aus Ettendorf, der Kaffee zum Schluss kommt aus der Rösterei Rech in Strassbourg und die Bärlauchblüten und -Blätter sammelt «Kräuter-Hexer» Cédric Dossmann aus Sparsbach.
10'000 Krokusse. Der «Jardinier au Naturel» hat sich rund um sein Wohnhaus einen wilden Park angelegt und im vergangenen Jahr dort beispielsweise 10'000 Krokus-Zwiebeln für die Safran-Produktion in den Boden gesetzt. Davon ist gerade nicht viel zu sehen, zurzeit vergnügt sich eine kleine Ziege auf dem Acker, das sei die ideale Vorbereitung für die nächste Ernte der edlen Gewürzfäden. Für junge Bärlauchblätter und -Blüten und viele andere Aromenschätze durchstreift Cédric Dossmann Felder, Wälder und Wiesen seiner Heimat: «Es ist überraschend, wieviel von dem essbar ist, was überall in der Natur wächst», sagt er. Auf seiner Terrasse gären grosse Gläser mit Holunder- und anderen Essigen im warmen Halbschatten vor sich hin und im Keller eines Nebengebäudes auf dem Grundstück hat sich der Autodidakt eine Art Werkstatt eingerichtet, um Tannenzapfensirup, Pestos und andere Produkte herzustellen.
Stradners Handschrift. «Ich arbeite gerne mit Leuten wie Cédric zusammen, die ihr Handwerk mit Leidenschaft zusammen», sagt Paul Stradner. Den Bärlauch verarbeitet der Küchenchef dann beispielsweise in einem eleganten Frühlingsgericht aus gebratenem Zander mit einer Bärlauch-Velouté, Kohlrabi und eingelegten Bärlauchblüten, die dem Gericht einen fein dosierten, süss-säuerlichen Akzent von Knoblauch geben. Am Ende ist es die Mischung aus Stradners kulinarischer Handschrift, dem sicht- und schmeckbaren Naturbezug sowie die sorgfältig ausgesuchten Produzenten und Lieferanten, die dem Essen eine sehr persönliche, unverwechselbare Note geben.