Text: Patricia Bröhm
Inflation? 32 neue Einsterner. Die honorige Hamburger Handelskammer war in goldenes Licht getaucht, als der Mann des Abends die Bühne betrat: Edip Sigl (grosses Bild oben), 39, ist Deutschlands neuer Drei-Sterne-Koch! Der Guide Michelin stellte gestern im hohen Norden die Auszeichnungen der Ausgabe 2024 für Deutschland vor: 32 neue Einsterner, dazu drei Häuser, die ab sofort zwei Sterne zieren. Und dazu der Mann, bei dem sich jetzt alle um eine Tischreservierung balgen – im Restaurant «Es:senz» im bayerischen Grassau, Chiemgau. «Eine großartige Leistung. Hier stechen die absolute Top-Qualität der Produkte und die ganz persönliche Stilistik von Herrn Sigl heraus», so das Michelin-Urteil.
«Chiemgau goes around the World.» Sigl ist kein Unbekannter, bereits im Münchner «Les Deux» hatte er zwei Sterne (und damals 17 GaultMillau-Punkte) erkocht. Aber seit er im Sommer 2021, mitten in der Pandemie, den Job wechselte und von Motel-One-Gründer Dieter Müller in dessen Hotel «Das Achental» ein Restaurant quasi auf den Leib geschneidert bekam, schien er nicht mehr aufzuhalten. «Chiemgau pur» heisst eines seiner beiden Menüs, das Scouting bester Produkte in der Region wurde zu seiner Passion. Doch er kann auch die große Welt, im zweiten Menü «Chiemgau goes around the World».
Saucen sind in der «Es:senz» Chefsache. Geboren in der Türkei, aufgewachsen in Köln, ging Sigl gezielt seinen Weg. Prägende Stationen waren Juan Amador und Heinz Winkler. In dessen Aschauer «Residenz» lernte er nicht nur seine heutige Frau kennen, sondern auch, wie man perfekte Saucen kocht. Sie sind im «Es:senz» Chefsache: «Da steckt Seele drin, mein Gusto, mein Geschmack. Das bin ich.» Der Gast schmeckt es, beim fruchtigen Tomaten-Kombucha-Sud zur Renke, beim luftig-grünen Petersilienschaum mit Topinambur-Einlage und Haselnuss zur Wachtel und, allen voran, bei der exzellenten Sauce zum Rehrücken: Ihre Basis ist aromatische Rehjus, verfeinert wurde sie mit kleinen Rosinen, deren fruchtige Trockenobst-Süße perfekt zum Wild passen.
Bayern boomt! Der Michelin 2024 erscheint in einer für die deutsche Gastronomie eher schwierigen Zeit. Sie leidet unter Personalmangel, Konjunkturschwäche und einer Mehrwertsteuererhöhung. Optimistisch stimmt die mit 32 hohe Zahl der neuen Einsterner, 2023 waren es nur zwei mehr. Zwei Sterne gab es dagegen im Vorjahr mit gleich acht deutlich mehr. Entwicklungen der Nach-Pandemie-Zeit wurden in der neuen Ausgabe bestätigt, so das Verblassen des Gastro-Mythos Berlin (nur ein einziger Stern ging in die Hauptstadt, der allerdings sehr verdient an die junge Sarah Hallmann, Chefin des «Hallmann&Klee»). In Deutschlands Norden und Osten tut sich derzeit eher wenig (in Leipzig wurde Ende 2023 mit dem «Falco» das einzige Zwei-Sterne-Restaurant im Osten geschlossen). Der Süden dagegen boomt, insbesondere Bayern, das mit insgesamt 79 Sternen jetzt deutscher Spitzenreiter ist. Neben den drei Macarons für Edip Sigl gingen zwei der drei neuen Zweisterner ins südöstliche Bundesland: Ausgezeichnet wurde in München das «Komu» von Christoph Kunz, dessen Mut zur Selbstständigkeit aus dem Stand belohnt wurde, und das «Pur» in Berchtesgaden; dazu kommen gleich elf neue Einsterner. Für Schweizer Gäste besonders interessant sind zwei Häuser am Bodensee: «SEO Küchenhandwerk» in Langenargen sicherte sich den zweiten Stern, «KARRisma» in Lindau holte einen.
>> Fotos: Das Achental