Text: David Schnapp | Fotos: Nik Hunger
Vielversprechende Aufregung. Vor dem Restaurant sind Arbeiter noch mit der Fertigstellung des Weges zum Eingang beschäftigt und im Inneren ist das Prickeln der vielversprechende Aufregung zu spüren, die jede gastronomische Neueröffnung begleitet. Das «Multertor» empfängt erst seit ein paar Tagen Gäste und ist das jüngste Projekt des umtriebigen Starchefs Tobias Funke («Fernsicht», Heiden). Hier, mitten in der Stadt St. Gallen und als Teil des Globus-Warenhauses, hat Funkes Konzept für ein Ganztages-Lokal mit einer Mischung aus Café, Beiz und Bar den Zuschlag erhalten.
Funke im Veston. Tobias Funke steht in Hemd und Veston statt in einer Kochjacke im «Multertor», er ist hier nicht als Koch, sondern als Ideengeber, Geschäftsführer und «Mädchen für alles» verantwortlich, kümmert sich um unerwartete technische Fragen. Die optimale Knusprigkeit der Gipfeli treibt ihn ebenso um wie Serviceabläufe. Und natürlich begrüsst Funke Stammgäste aus seinem 18-Punkte-Restaurant Incantare persönlich. Die Neugierde hat sie in das gemütlich und modern wirkende Lokal mit 80 Sitzplätzen und grosser Terrasse getrieben. «Es ist noch lange nicht perfekt, was wir hier machen. Aber das Ziel ist Perfektion auf einem einfachen Niveau», sagt Funke über den Stand der Dinge und seine Aufgaben im «Multertor».
«Mamis Küche.» Zusammen mit seinem jungen Küchenchef Andi von Gunten hat Tobias Funke ein Konzept entwickelt, das auf «Mamis Küche» beruht: Serviert werden Klassiker der gutbürgerlichen Küche und Gerichte, welche die beiden Köche durch ihre Kindheit begleitet haben. Darunter sind der in den 80er Jahren weit verbreitete Crevetten-Cocktail oder andere Bestseller wie «Fischstäbli», «Pastetli» und Penne «Cinque-Pi» mit den fünf «P» in der Zutatenliste: Panna (Rahm), Parmesan, Penne, Prezzemolo (Petersilie) und Pepe (Pfeffer).
Crevetten-Cocktail für Fortgeschrittene. Die Karte ist zwar geschrieben, aber auch bei den Gerichten wird an den Details noch gefeilt. Wir begleiten Tobias Funke beim «Tasting», das Erkenntnisse für mögliche Verbesserungen bringen soll. Bei den Wildfang-Shrimps, geliefert von Fischspezialist Bianchi, fehlen Funke noch «etwas Salz und Säure». Die fortgeschrittene Version des Crevetten-Cocktails wird mit Sauerteig-Focaccia und einer Mayonnaise mit kaltgepresstem Erdnussöl angerichtet. Tomatenpulver sorgt für den Cocktail-Geschmack – ohne die dominante Ketchup-Süsse aus früheren Zeiten.
Diskussionsbedarf. Während bei der Pasta nur noch der Gargrad sanft justiert werden muss, gibt es bei den Fischstäbchen mehr zu diskutieren. Unter der dünnen, knusprigen Panade findet sich eine Art Farce aus Wildfang-Kabeljau und geräucherter Forelle, deren Konsistenz aber an ein Püree erinnert. «Das müssen wir uns nochmals anschauen», findet Tobias Funke. Aber mit der dünnen Panade ist er zufrieden: «Die grobe Variante wie in meiner Kindheit hat schon auch Charme und sieht gut aus, aber das Mundgefühl mit der feineren Panade ist besser.»
«Es fehlt etwas.» Am meisten Gedanken macht sich der Chef des neuen Restaurants noch über die Pastetli. Den buttrigen, knusprigen Blätterteig stellt ein lokaler Confiseur her, er wird vor Ort in der «Multertor»-Küche zu rechteckigen Formen verarbeitet. «Das gibt weniger Teigreste als runde Pastetli», so Funke. Aber mit der Füllung ist er nicht vollends zufrieden. Unzählige Versuche mit Brät seien nicht zufriedenstellend verlaufen. «Deshalb haben wir uns für ein klassisches Blanquette de Veau entschieden. Aber es fehlt etwas – vielleicht wären Milken eine Lösung», sagt Funke. Geschmacklich ist dieser Schweizer Alltagsklassiker allerdings überzeugend, Enoki-Pilze, Estragon-Essig und Erbsen sorgen für eine rustikale Eleganz.
Süsse Erinnerungen. Auch über die Desserts denkt Tobias Funke noch nach. Die Schwarzwälder Crème brûlée als eine von zwei Süssspeisen ist zurzeit noch eher eine Verlegenheitslösung und keine unvergessene süsse Erinnerung aus glücklichen Kindertagen. Genau in diese Kategorie fällt der Milchreis mit Zimt-Glace auf Milchreis-Basis und dazu Zwetschgen, und das Dessert zeigt auch die Stärke von Tobias Funkes Idee. Auch wenn in den kommenden Wochen einige Stellschrauben noch feinjustiert werden: Klassiker aus Mutters Küche mit den Möglichkeiten und dem Ideenreichtum zweier junger talentierter Chefs von heute zu veredeln, ist jetzt schon ein Konzept mit schier unwiderstehlichen Charme.