Text: David Schnapp
Alle Erwartungen enttäuschen. Die meisten Gäste haben hohe Erwartungen, wenn sie in ein weltbekanntes Restaurant zum Abendessen eintreffen. Gaggan Anand wiederum ist bereit, alle diese Erwartungen zu enttäuschen. Der Koch Kolkata (Indien) hat in Bangkok 2019 ein neues Lokal aufgemacht, wo gutes Essen an einem Counter für lediglich 14 Gäste vor offener Küche mit lauter Rockmusik, Lichteffekten und Moderationen des Hausherrn selbst kombiniert werden. Es ist das wohl verrückteste und gleichzeitig persönlichste Fine-Dining-Erlebnis, das zurzeit angeboten wird.
«But Here We Are.» Beim Eintreffen der Gäste, das zweite Seating beginnt jeweils um 21 Uhr, ist die Küche in grünes Licht getaucht, letzte Vorbereitungsarbeiten werden vorgenommen, und das sieht sehr organisiert und strukturiert aus. Dazu läuft in Konzert-Lautstärke «But Here We Are» der legendären Rockband Foo Fighters, und es wirkt ein wenig, als hätte man eine Konzerthalle betreten, während die Band noch beim Soundcheck ist. Nach den 20 Gängen in zwei Akten – inklusive zwei Desserts am Ende jedes Aktes – wird uns Gaggan später bei einem Team-Essen in einem einfachen Thai-Restaurant um die Ecke erklären, dass ihm die Idee zu seiner «FoodvOpera», wie er es nennt, während eines Konzerts der Foo Fighters in Manhattan kam.
«What the Fuck?» Gaggan ist erklärter Rockmusik-Fan, war in seiner Jugend erst Schlagzeuger, bevor er eine Koch-Ausbildung begann, und kann über Roger Waters und Pink Floyd, The Ramones oder Nirvana ebenso leidenschaftlich debattieren, wie er während seiner Performance manche Gesetzmässigkeiten der Fine-Dining-Szene lautstark in Frage stellt. «Fine Dining bedeutet in der Regel, dass man die Portionen verkleinert und die Preise erhöht», sagt Gaggan etwa und hat damit die ersten Lacher seines eigenen zahlenden Publikums schon mal auf sicher. «What the Fuck?», ist ein Ausdruck, der immer wieder fällt, wenn Gaggan über fragwürdige Nachhaltigkeits-Selbstdarstellungen, zweifelhafte Fischzuchten oder gefälschten Kaviar spricht, während die Gäste auf den nächsten Gang warten.
Ratten-Hirn aus Panna Cotta. Der erste Akt beginnt mit einer Reihe von Kleinigkeiten: Eine Joghurt-Sphöre mit Knallzucker etwa, die mit etwas Schärfe und Süsse am Gaumen nachhallt, oder eine Mischung aus Kokosnuss und Tamarinde sowie schliesslich etwas, was aussieht wie ein kleines weisses Hirn, aus dem ein feiner Faden von Blut zu rinnen scheint. Dazu erzählt Gaggan ausufernd die Geschichte, wie man während der Regensaison, wenn die Strassenratten nach oben gespült werden, die Nager einsammle, wie Foie Gras mit Mais stopfe und schliesslich deren Hirn serviere. In Wahrheit handelt es sich um eine Art Panna Cotta aus Mais und Milch, die mit Agar gestockt wurde. Aber Gaggan macht daraus eine Persiflage auf den Null-Kilometer-Zutaten-Trend oder die Farm-to-Table-Idee, welche aus seiner Sicht in den meisten Fällen blosses «Greenwashing» sei. Man muss die Ansichten des Performance-Kochs nicht teilen, aber wie er seine Überzeugungen vorträgt, ist zumindest höchst unterhaltsam. «Manchmal muss man als Chef ein Arschloch sein», wird er später sagen. Und dass es ihm nichts ausmacht, als solches gesehen zu werden, ist offensichtlich.
Teenager-Traum wahrgemacht. «Ich habe meinen Teenager-Traum vom Leben eines Rockstars nun mit meiner Leidenschaft für das Kochen verbunden», sagt Gaggan auch. Und wenn die Gäste lautstark und im Chor «Wonderwall» von Oasis oder «Rocket Man» von Elton John mitsingen, während der nächste Gang vorbereitet wird, gehört das zu einem Erlebnis, dass man wohl nirgendwo sonst in einem Weltklasse-Restaurant haben kann. Denn wenn die Musik verstummt und sich der Show-Nebel gelegt hat, gilt festzuhalten, dass dies bei allem Lärm ein hervorragendes Restaurant ist: Viermal war Gaggan Anand mit seinem ersten Lokal in Bangkok die Nummer eins der «Asia’s 50 best» und rangierte einmal als Nummer vier der «World’s 50 best Restaurants». 2021 kehrte der gebürtige Inder mit seinem «Gaggan Anand» an neuem Ort wieder zurück auf Platz 5 der besten Restaurant Asiens. Dabei gibt es wohl keinen Koch, der sich weniger darum schert, was andere über ihn denken. Gleichzeitig gibt er zu, dass diese Art von Küchen-Performance stark abhängig sei von den Gästen. «Es gibt Abende, wo es nicht funktioniert, weil die Gäste nicht mitmachen. Ich bin natürlich abhängig von deren Reaktionen». Diese Wechselwirkung zwischen Künstler und Publikum erinnert eher an ein Rockkonzert als an ein Fine-Dining-Erlebnis.
20 perfekte kleine Gerichte. Während Gaggan seine Punk-Attitüde kultiviert, arbeiten seine rund ein Dutzend Köchinnen und Köche höchst konzentriert und nahezu fehlerfrei. Die 20 kleinen Gerichte sind perfekt ausgeführt, geschmacklich fein ausbalanciert und höchst abwechslungsreich. Gaggan hat auch technisch und aromatisch eine ziemlich unnachahmliche Mischung gefunden, kombiniert seine indischen Wurzeln mit Erfahrungen bei Ferran Adrià im «El Bulli» und seiner Passion für die japanische Kunst der Reduktion. So werden japanische Shrimps kurz in flüssigen Stickstoff getaucht und dann in zwei verschiedene Saucen getaucht – eine Art «Magnum aus dem Meer». Schweinenacken gibt es, mariniert mit geräuchertem Tee, im «Vindaloo»-Stil in einem dünnen, knusprigen Taco und aus Fish ‘n’ Chips wird eine heisse knusprige Kugel: das Innere besteht aus einer Kartoffelcreme mit bengalischem Senföl; die knusprige Hülle aus Wolfsbarsch, der erst gedämpft, dann zu Flocken getrocknet und frittiert wird – heiss, wohlschmeckend und anregend scharf.
Dirigent eines Orchesters. «Was wir kochen, ist extrem aufwendig und sehr genau rezeptiert, um Fehler praktisch auszuschliessen», erklärt Gaggan, während er im Thai-Restaurant das Fleisch einer Kokosnuss heraus schabt, aus der er zunächst mit einem Strohhalm die Flüssigkeit gesogen hat. «Unser Essen ist so technisch, aber gleichzeitig so schlicht, das können nur wenige Küchen in der Welt überhaupt leisten», sagt Gaggan. Und erklärt zum Schluss auch seine eigene Rolle: «Ich bin, im Musik-Kontext gesprochen, der Produzent oder Dirigent. Ich weiss genau, wer in meinem Team wofür am besten geeignet ist. Und ich weiss, was ich selbst dazu beitragen kann, damit die Gäste am Ende diese ausserordentliche Erfahrung machen können.»