Text: Max Fischer I Fotos: Thomas Buchwalder
GaultMillaus «Green Chef of the Year». Er zaubert in seiner Küche wie der Druide im gallischen Dorf: Kräuterkoch Paolo Casanova holt aus Knospen, Blüten, Blättern, Stangen, Pflanzen und Kräutern mit alten Methoden und neuen Techniken die verrücktesten Aromen heraus. «Kein Kraut ist wie das andere», sagt der 42-Jährige. «Entdeckung des Jahres» war Casanova schon (2020), dieses Jahr zeichnet ihn der GaultMillau als ersten «Green Chef of the Year» aus und erhöht auf 17 Punkte. Wer diesen Titel will, muss die Vorgaben von Bio Cuisine erfüllen (mindestens 30 Prozent Bio-Produkte) und dazu noch ganz ausgezeichnet kochen. Grosses Bild oben: Paolo Casanova und seine «Minestrone di Bosco».
«Die Natur liefert uns das Beste.» Casanova steht für unverfälschte Naturprodukte, Nachhaltigkeit und Genuss vom Feld bis auf den Teller. Der Spitzenkoch mit der grünen Seele verwendet 80 Bergkräuter aus der Umgebung von Madulain: Weideröschen, Sauerampfer, Wilden Salbei, Löwenzahn, Leimkraut, Veilchen, Moos, Klee und Süssholz. Oder den Grünen Heinrich, also wilder Spinat. «Alles ist frisch, äusserst intensiv im Aroma, gratis und mehr als bio», sagt er. «Die Natur liefert uns das Beste!» In seinem Herbarium listet er alles fein säuberlich von Hand auf. Die lateinischen Namen, die Bezeichnung auf Italienisch und Deutsch und die Zugehörigkeit zur Familie. Hinter dem Restaurant pflanzt er die gesammelten Kräuter an.
Täglich auf der Suche. Mit dem Mountainbike. Jeden Tag ist der Chef anderthalb Stunden mit seinem Mountainbike unterwegs. Auf entlegenere Alpen fährt er mit dem Jeep. Immer dabei: sein Rucksack mit Sackmesser, Schere und Plastikschälchen. «So kann ich abschalten und neue Ideen kreieren», sagt Paolo. Er ist überzeugt davon, dass jeder Koch immer mal wieder die Küche verlassen und sich von der Natur anregen lassen sollte. Zudem bleibt der ehemalige Spitzensprinter aus Italien auf seinen Entdeckungstouren fit. Keine Angst, beim Pflücken ein giftiges Exemplar zu erwischen? «Diese sind leicht zu erkennen», erwidert er. «Und es geht eh kein Kraut und keine Pflanze direkt in die Küche», betont Paolo. Der Kräuterkoch setzt auf eine Dreifachkontrolle: «Ich verwende als Erstes eine Erkennungs-App.» Weiter vergleicht er die gefundene Ausbeute immer mit Bildern und Informationen eines Lexikons. «Zudem frage ich die Bündner Kräuterexpertin Mariagrazia Marchesi, einen anderen Spezialisten oder eine Fachstelle um Rat.» Erst wenn alles klar ist, finden Kräuter und Pflanzen ihren Weg in Suppen, Fonds, Saucen, Brühen, Teigwaren und Desserts.
Wachteleier aus S-chanf, Chüngel aus Poschiavo. Was Paolo nicht in der Natur findet, kauft er in Bio-Qualität zu: das Basisgemüse sowie Säuli, Kälber und Lämmer. Dazu sämtliche Mehle aus Bündner Berggetreide von Gran Alpin in Surava und Eier aus Zuoz. Wichtig sind ihm regionale Produkte wegen der hohen Qualität, den kurzen Wegen und der grossen Transparenz. «Aber die Qualität muss stimmen», sagt Paolo. Wie bei seinen Beeren und Wachteleiern aus S-chanf sowie den Forellen und Chüngeln aus Poschiavo und dem Käse aus Pontresina oder Madulain.
Sein Lehrmeister: Weltstar Massimio Bottura. Gelernt hat Paolo sein Handwerk bei einem der ganz Grossen der italienischen Küche: «Ich war fast zwei Jahre in der ‹Osteria Francescana› in Modena bei Massimo Bottura.» Dieser hat sich drei Michelin-Sterne erkocht und gilt als einer der weltweit Kreativsten am Herd. Gelernt hat Paolo aber auch zu Hause im Familienhotel Villanova in Campolongo di Cadore in der Nähe von Cortina in den Dolomiten. «Schon als Kind half ich aus, trocknete die Gläser und ordnete die Nudelpackungen ein», erinnert er sich. Er schaute seiner Grossmutter zu, wie sie Knödel für die Gäste zubereitete. Seine Mutter zeigte dem Kleinen allerlei Pflanzen in der Umgebung. «Mit 14 habe ich meine erste Vespa gekauft. Mit dem Geld aus dem Verkauf von selbst gesammelten Steinpilzen.» Gern hätte er nach der Mittelschule die Kunstschule besucht. Sein Vater empfahl ihm die Hotelfachschule. Dass er durchaus das Zeug zum Künstler hätte, zeigt das Interieur der «Stüva Colani»: Während der Coronazeit hat Paolo sämtliche edlen Holztische für das Restaurant geschreinert und auch die Bilder an der Wand gemalt.
Mit der Familie in den Bergen. Auf seinen Lehr- und Wanderjahren mit Stationen in Italien, Deutschland und Bahrain spielten die Kräuter nicht mehr die Hauptrolle. Das änderte sich, als Sohn Aaron vor acht Jahren kurz vor dem Start der «Stüva Colani» im Engadin zur Welt kam. «Seine Geburt in der Bergwelt brachte mich zurück zu meinen Ursprüngen», so Paolo. Und dank der Schwiegermama, seiner Schwägerin und der eigenen Frau lernte er die Geheimnisse der verschiedenen Kräuter im Oberengadin kennen. Hier fand Paolo die Aromen und Gerüche seiner Kindheit wieder. Das inspirierte den Koch, Zutaten aus der Natur in seine Gerichte einzubauen. Seit 2016 kocht er in der «Stüva Colani», seine Frau Stella sorgt sich um Verwaltung und Buchhaltung, macht die Bestellungen für den Weinkeller und kontrolliert die Gästezimmer. Das hält Paolo den Rücken frei für seine Kräuterküche. Paolo wurde schnell klar, dass die Bedeutung des richtigen Terroirs entscheidend ist, um der eigenen Küche einen unverwechselbaren Stempel aufzudrücken.
«Minestrone di Bosco» & Lärchen-Gnochetti. «Im Winter kann ich hier keine Kräuter, Pflanzen und Blumen sammeln», sagt Paolo. Deshalb trocknet er seine Ausbeute, oder er legt sie ein. Er destilliert und fermentiert mit Leidenschaft. «Die Gäste sollen auf dem Teller unsere Landschaft und unsere Lebensweise wiederfinden, und das zu jeder Jahreszeit.» Im Sechs-Gang-Degustationsmenü «Il mio pensiero tra i boschi» bringt Paolo Casanova die in der Natur gesammelten Eindrücke auf farbenfroh-künstlerische Art mit Kräutern und Pflanzen sowie Fleisch, Fisch und Seafood zum Gast. Den Anfang macht eine Minestrone di Bosco. Keine herkömmliche Minestrone. Die Suppe spiegelt den Charakter der Umgebung, den Wald. Mit Knollensellerieschaum, Orma Corvatsch Whisky, Knoblauch und Moschusgelee, fermentierten Tannzapfen, Flechten, Pilzen, Wurzeln, Ricotta- und Lärchen-Gnocchetti sowie Pilzbrühe. In Anlehnung an die traditionelle Jagd im Engadin folgt ein Rehtataki mit Senapellasalat, Tapiokachips, fermentierten Radieschen und Stiefmütterchenkonfitüre. Miraculix hätte seine helle Freude!