Fotos: Joan Minder
Die Nacht zum Tag. Der Tag beginnt für einmal schon in der Nacht, ihr schwarzer Schleier liegt blickdicht über der Stadt Zürich. Die Ampeln sind noch gar nicht in Betrieb, und nur vereinzelt ist auf den dunklen Strassen menschliche Bewegung wahrzunehmen. Im Zürcher Engrosmarkt hingegen ist um 4.45 Uhr die grösste Aufregung schon vorbei. Die meisten Lieferwagen der weitum tätigen Gemüselieferanten sind um diese Zeit bereits losgefahren, die Stimmung zwischen Kisten mit exotischen Früchten, Gemüse der Saison und den ersten unvermeidlichen, eher grünweiss als rot leuchtenden Erdbeeren ist heiter-kollegial.
Zwei Generationen, ein Beruf: Gregor und Jürg Smolinsky im Zürcher Engrosmarkt.
«Dreamteam.» An diesem zugleich sachlichen und exotischen Ort treffen wir die Smolinskys; Sohn Gregor und Vater Jürg sind ausnahmsweise zusammen auf dem grössten Markt der Schweiz unterwegs. Normalerweise fährt Jürg Smolinsky ein- bis zweimal pro Woche zusammen mit einem Kollegen hierher und holt für Gregor alles, was er an pflanzlichen Zutaten bestellt hat. Seit 50 Jahren ist Smolinsky der Ältere hier Kunde, 36 Jahre lang führte der heute 80-Jährige das Restaurant Sihlhalde in Gattikon bei Thalwil, ehe er das Geschäft ab 2003 schrittweise seinem Sohn übergab. Smoly jun. über Smoly sen.: «Es gab Generationen- und Interessenskonflikte, aber mit der Zeit haben wir uns zum Dreamteam entwickelt.»
Zürich um 4.45 Uhr: Engrosmarkt im Industriequartier West.
Buntes aus aller Welt: frische Mango auf dem Engrosmarkt.
Fleischkäsesandwich als Tradition. Im Marktcafé mit seinem grellen Neonlichtcharme isst Jürg Smolinsky wie bei jedem Besuch noch ein Fleischkäsesandwich, dann fährt er mit einem Auto voller Stängelkohl, Catalogna (Blattzichorie), Mangos und vielem mehr zurück ins Restaurant. Gregor Smolinksy nimmt uns währenddessen mit zu einer weiteren Quelle guter Produkte und zu seinem wohl wichtigsten Lieferanten: Seit 1972 bringt die Firma Bianchi aus Zufikon AG frischen Fisch und andere Meeresprodukte in bester Qualität in die «Sihlhalde». Auch dieser Tradition ist «Smoly», wie Gregor Smolinksy von Menschen, die ihn gut kennen, genannt wird, treu geblieben.
Chefs in der fünften Generation: Luca und Dario Bianchi in der neuen Mitarbeiterkantine am Firmensitz in Zufikon AG.
Makrelen auf Eis. Luca und Dario Bianchi, die beiden jungen Chefs, die das Familienunternehmen in der fünften (!) Generation weiterführen, telefonieren um 7 Uhr hochkonzentriert mit ihren besten Kunden. Kistenweise liegen unten in der Ankunftshalle frische japanische Makrelen, einzeln auf Eis in schneeweisse Styroporboxen gebettet. Bretonische Jakobsmuscheln, Zander aus dem Lago Maggiore oder auch ein acht Kilogramm schweres Prachtexemplar eines Wolfsbarschs warten hier im eisigen Dunst, bevor sie in den typischen weissen Lieferwagen mit dem roten Bianchi-Krebs ausgeliefert werden. Auch der Delikatessenhandel ist ein Frühaufstehergeschäft: «Wir beginnen um 4.30 Uhr.
Frisch aus Frankreich: bretonische Jakobsmuscheln von Bianchi.
In der Küche trägt er Polo-Shirt: Gregor Smolinsky am Herd.
Ländliche Gemütlichkeit. Damit die Ware am nächsten Tag hier ist, muss man rechtzeitig bestellen», sagt Luca Bianchi. Vom geschäftigen Fischhandel geht es in die ländliche Gemütlichkeit: Die «Sihlhalde» war erst eine Bauernbeiz in einem Haus aus dem 17. Jahrhundert und wurde 1972 von den Smolinskys als Restaurant eröffnet. Eine Landwirtschaft im wörtlichen Sinn: Vom Küchenfenster aus sind ein sanft ansteigender Weg und etwas Wald zu sehen, der Blick ist frei, die Lage unverbaut. Neben dem Riegelhaus, in dem die «Sihlhalde» untergebracht ist, leben ein paar Hühner, deren Eier Gregor Smolinsky während Abwesenheiten des Besitzers für seine Zwecke nutzen kann.
Bauernhaus aus dem 17. Jahrhundert: Restaurant Sihlhalde in Gattikon (16 Punkte).
Erst Elektroniker, dann Koch. Während er jetzt in der Küche mit den niedrigen Decken am Herd steht, mit wenigen sicheren Handgriffen das Gemüse rüstet und in schneller Folge Jakobsmuscheln aufbricht, strahlt der grossgewachsene Koch Selbstverständlichkeit aus. Dabei hat der 49-jährige Vater zweier Teenager sich zu Beginn seines Berufslebens «dagegen gewehrt, Koch zu werden», wie er sagt. Der junge Smoly begann eine Lehre als Elektroniker, die er nach fünf Monaten abbrach, um doch noch eine Ausbildung als Koch zu machen. «Mir war immer klar, dass Gastronomie nur mit einem grossen persönlichen Opfer möglich ist, das hatte ich bei meinen Eltern gesehen. Und bevor ich das anfangen konnte, musste ich erst für mich Klarheit schaffen», sagt er rückblickend.
«Harte Schule.» So gründlich, wie er sich das überlegt hatte, ging Gregor Smolinsky das Kochen dann auch an. Fünf Jahre lang arbeitete er in der Westschweiz bei Adolf Blockbergen und 19-Punkte-Chef Philippe Rochat. «Das war wie eine Universitätsausbildung. Da habe ich gelernt, was klassische Küche bedeutet, weil das kulinarische Spektrum viel grösser war als in der Deutschschweiz», sagt Smolinsky. Das sei «eine harte Schule in einer rauen Zeit gewesen». 60, 70 Stunden pro Woche und Kollegen, die während der Arbeit vor Erschöpfung umkippten, sind ihm in Erinnerung geblieben.
Erinnerung an die Westschweiz: Jakobsmuschel in der eigenen Schale mit Catalogna.
Unkomplizierte Marktküche: gebratener Seehecht mit Cima di Rapa und Beurre blanc.
Neun Wochen Ferien. Diese Arbeitsweise hat Gregor Smolinsky nicht übernommen, seinen Mitarbeitern gewährt er beispielsweise neun Wochen bezahlte Ferien. Anderes hingegen ist dem Koch aus seiner Zeit in der Westschweiz geblieben, etwa die in der eigenen Schale servierte Jakobsmuschel oder der Seehecht, den Smolinsky am Morgen bei den Bianchis geholt hat und jetzt kurz in der Pfanne brät. Dazu etwas Cima di Rapa, Chicorino Rosso und klassische Beurre blanc. «Ich koche so, wie ich selbst gerne esse», sagt er.
«Ich koche so, wie ich selbst gerne esse»: Gregor Smolinsky in seiner Küche mit Blick ins Grüne.
«Weniger ist mehr.» Sein Stil lasse sich mit der Formel «Weniger ist mehr» zusammenfassen. Damit die Gäste wiederkommen, das hat Gregor Smolinsky in all den Jahren als selbständiger Gastronom ohne Querfinanzierung gelernt, müsse man «geerdet kochen». Die beliebten Schmorbraten-Ravioli mit hauchdünnem Teig hatte schon sein Vater auf der Karte. Und der Hackbraten, der aus der Corona-Not geboren wurde, ist mittlerweile ein «Sihlhalde»-Kultprodukt. «Ich stehe immer noch jeden Tag gerne in der Küche», sagt Gregor Smolinsky zum Schluss. Es sei anspruchsvoll, «aber einer der schönsten Jobs, die es gibt».