Text: Kathia Baltisberger Fotos: Tina Sturzenegger
Neue Horizonte. Es war einmal ein deutscher Starchef namens René Stoye. Eigentlich wollte er Anwalt werden, doch wegen seiner Grossmutter, die von früh bis spät in der Küche stand, erlernte er das Handwerk des Kochs. Vor Jahren verliess er sein Zuhause und reiste in ein kleines Land südlich seiner Heimat. Ein neues Heim fand er in dem kleinen Bündner Bergdorf Scuol, am Fusse des Schloss’ Tarasp. Weil er viel Talent beim Zubereiten von Speisen hatte, durfte er im Engadiner Boutique-Hotel GuardaVal in der Küche anheuern. Um seine Gäste glücklich zu machen, entschied er sich, nur die besten Produkte zu verwenden. Also durchstreifte er die Gegend, um an regionale Schätze zu gelangen.
Höhlengereift. Weit suchen musste der Glückliche nicht. Bei seinem Nachbarn, Ludwig Hatecke, wurde er sofort fündig. Der Metzger fertigt feinstes Trockenfleisch und würzigen Salsiz – und das schon in der dritten Generation. Rund viereinhalb Monate hängt so ein Mocken Fleisch. Wird er zu hart, kommt er in eine Mineralwasserhöhle, wo er wieder weicher wird. Auch die Unterländer wurden der dreieckigen Produkte gewahr. Seither wird das Bündner Fleisch auch in Zürich feilgeboten.
Verrücktes Labyrinth. Um die perfekten Eier zu ergattern, musste Stoye ins Nachbarsdorf. In Sent lebte Marco Bettini, ein junger Bauernsohn, der den Hof seiner Eltern mit 23 Jahren übernahm. Zehn Jahre sind seither ins Land gezogen und Marco Bettini hatte sich mit den Sentner Eiern einen Namen in der Region gemacht. So belieferte er nicht nur das Lokal von René Stoye, sondern auch seine Kollegen in den anderen Hotels der Belvedere-Gruppe. Die sind übrigens alle durch einen Tunnel miteinander verbunden – eine Art unterirdisches Labyrinth, an dessen Ende sprudelnde heisse Quellen warten.
Märchen im Märchen. Noch weiter gen Osten, am «Rande der Randregion» könnte man sagen, verarbeitete Chatrina Mair zusammen mit ihrem Mann Peter Ziegen-, Schaf und Kuhmilch zu bestem Käse. Das Ehepaar hatte die alte Käserei in Tschlin wieder in Betrieb genommen. Ohne Zusatzstoffe und Hilfsmittel und ganz nach altem Handwerk wurde produziert. Als «Spinner» hatte man sie bezeichnet. Erfolgschancen: gleich null. Doch die Mairs setzten sich durch, fanden einen Markt für ihre Nischenprodukte. Einer ihrer Abnehmer: René Stoye.
Konsequente Alpenküche. Mit all diesen Zutaten im Gepäck kehrte Stoye zurück in die Hotelküche: Er steckte eine Sellerieknolle auf dem Salzbett vier Stunden in den Ofen; für ein Püree, das jede böse Hexe milde stimmen würde. Das Sentner Ei hat er bei 63 Grad eine Stunde gegart. Da wo der Gletscher aufhört und das Grün beginnt, findet man das Kraut Iva. Daraus machte Stoye ein Sorbet. Und der Ziegenkäse der Familie Mair landete in einem kleinen Törtli. Seine Gäste lebten mit diesen Speisen glücklich und zufrieden.
>> René Stoye ist Chef im Restaurant des Hotels Guarda Val in Scuol. Für seine regionale, alpine Küche bekam Stoye vom GaultMillau neu 15 Punkte verliehen. Aus Freude über diesen zusätzlichen Punkt kochte der Deutsche am 15. Dezember 15 Gänge und erzählte 15 Geschichten zum Essen und zum Hotel.