Text: David Schnapp | Fotos: Sanjeev Velmurugan
Seeigel, Algen, Tofu. Eine halbe Stunde vor Türöffnung am vierten Abend des «Dolder»-Gourmetfestivals «The Epicure» ist in Heiko Nieders Küche ruhige Konzentration gefragt: Zwei Köche aus Südkorea entfernen in einer buddhistischen Seelenruhe mit Pinzetten Frischhaltefolie von kleinen Teig-Kugeln, entfernen die Folie und zupfen anschliessend die Verschlussstelle sorgfältig auf, sodass eine typische Dumpling-«Halskrause» entsteht. Die Dumplings mit einem Teig aus Stärke wurden gedämpft, die Füllung besteht aus Seidentofu, Seeigel sowie Algen; es ist eines der Gerichte, die Gastkoch Sung Anh aus Seoul serviert.
Gewagt, gewonnen. Bevor er 2017 in Seoul sein «Mosu» aufgemacht hat, lebte Sung Anh in San Francisco, wo er ebenfalls einen Stern erkochte. «Ich wollte näher bei meiner Familie sein, das war eigentlich der wichtigste Grund, nach Seoul zurückzugehen und nochmals neu anzufangen», sagt er. Das Risiko des Neuanfangs einzugehen, hat sich gelohnt: Heute ist das «Mosu» das einzige Restaurant in Seoul mit drei Michelin-Sternen.
15 Jahre alte Sojasauce. In Zürich wiederum hat er, wenn man so will, auch bei Null angefangen: «Wir haben nur wenige Zutaten von zu Hause mitgenommen, sondern alles vor Ort in Heikos Küche zubereitet», sagt er. Währenddessen formen die beiden Köche von Anh mit Pinzetten geduldig aus frisch geriebenem Wasabi kleine Kugeln. Dann ist es Zeit, den Dumpling zu servieren. Dafür wird die Wasabi Kugel auf die Teigtasche gesetzt und ein Sud aus Bonito-Flocken, getrockneten Anchovis und 15 Jahre alter Sojasauce angegossen.
Die Nadelprobe. «Kochen hat für mich viel mit Intuition zu tun», sagt Sung Anh über seine Grundsätze. «Wenn ich morgens sehe, dass das Wetter kalt ist, servieren wir abends keinen rohen Fisch, sondern vielleicht eher etwas Warmes wie ein Porridge. Und wir benutzen auch kein Sous-Vide-Equipment und kontrollieren den Garpunkt mit feinen Nadeln statt mit Thermometern: Man sticht sie in das Gemüse, den Fisch oder das Fleisch und hält sie anschliessend an die Lippe. So kann man genau fühlen, wie etwas gekocht ist. Ich möchte mich als Koch voll hineingeben in das, was ich tue, das ist für mich der beste Weg.»
Kräuter und Konzentration. Gleich danach ist – diesmal im «Team Heiko» –Konzentration und Pinzettenarbeit gefragt: Für den dünn aufgeschnittenen rohen Hamachi mit Erbsen und Kokosmilch braucht es viele feine Kräuter: Erbsensprossen, und Dillspitzen sollen aufrecht stehend angebracht werden, eine ganze Reihe Köchinnen und Köche von «The Restaurant» im Swiss Deluxe Hotel sind fokussiert damit beschäftigt, die grünen Elemente zu platzieren.
Küchen zweier Welten. Heiko Nieder und Sung Anh vereint zweifellos die Aufmerksamkeit für jedes noch so kleine Detail, ansonsten sind die Küchen der beiden Starchefs etwa so weit voneinander entfernt wie Seoul von Zürich, was allerdings den Abend höchst interessant und abwechslungsreich macht. Auf der einen Seite das von vielen jodigen Nuancen und Umami geprägte Aromenprofil des Südkoreaners, auf der anderen die weltoffene, eklektische Küche des 19-Punkte-Kochs aus der Schweiz. «Natürlich gehen wir teilweise in eine asiatische Richtung, aber Sungs Küche ist etwas völlig anderes, was ich auch gar nicht könnte», sagt Nieder zu den Unterschieden.
Umami, Süsse, Säure, Schärfe. Die Highlights dieser ungewöhnlichen Paarung aus verschiedenen kulinarischen (und geografischen) Welten ist zum einen Heiko Nieders gebratener «Kaisergranat sauer-scharf» (Grösse 2/3) im Tom-Yam-Stil mit einer komplexen Essenz von Krustentieren, Mango und Kürbis sowie Thai-Basilikum-Öl, die aber nicht im klassischen Bisque-Stil, sondern mit viel Aufwand in zwei Ansätzen so gekocht wird, dass ein ausserordentlich feines, gut balanciertes Konzentrat entsteht, dass viel Umami, Süsse und Säure sowie eine leichte Schärfe aufweist.
Gegensätze werden Harmonie. Beim Gast aus Seoul ist es eine überraschende Kombination, die beispielhaft seine Vorstellung des intuitiven Kochens zeigt: Zu à la Minute in Geflügelfond gekochten schwarzen Nudeln, die aus Mehl von verbranntem Ahorn gemacht werden, serviert Sung Anh eine Sauce, die erst in Zürich entstanden ist: Geflügelfond, Butter und Kombu-Algen werden mit wenig Parmesan leicht gebunden. «Das fühlt sich sehr europäisch an», sagt der Südkoreaner lachend. Das Ergebnis ist ein heisses, aromatisches und gleichzeitig subtiles Löffel- beziehungsweise Stäbchen-Gericht, über das reichlich schwarzer Trüffel gehobelt wird, und das viel vom Selbstverständnis des Gastkochs transportiert, aber auch die Idee von «The Epicure» auf den Punkt bringt: Welten zu verbinden und vermeintliche Gegensätze in geschmacklicher Harmonie aufzulösen.