Text: David Schnapp
Welches war der beste Gang, den Sie 2020 auf den Tisch gebracht haben?
(Überlegt lange) Das waren wohl die Kalbsmilken, die wir zuletzt auf dem Menü hatten. Das Gericht erinnert an die türkische Küche, das Fleisch wird dafür gezupft, nicht zu stark gebraten und dann mit Joghurt, Anis, ganz viel Petersilie, Petersilienwurzel und Petersiliensablés kombiniert. Und diesen buttrigen, gerösteten, säuerlichen und frischen Geschmack finde ich grossartig und ausserdem sieht das Gericht Hammer aus!
Sie werden seit dem Jahr 2019 mit 19 Punkten bewertet. Fühlen Sie sich mit dieser Spitzennote wohl, und wohin soll die Reise noch führen?
Zuerst ist das natürlich eine faire Bewertung (lacht). Zu Beginn waren die 19 Punkte ungewohnt, aber mittlerweile hat das eine gewisse Selbstverständlichkeit bekommen. Bewertungen beeinflussen mich nicht beim Kreieren und Kochen. Auch wenn wir natürlich jeden Tag noch etwas besser werden wollen, kommt meine Motivation aus der Sinnhaftigkeit von dem, was ich mache. Denn gerade in diesem Jahr hat sich gezeigt, welche Bedeutung die Gastronomie für eine Gesellschaft hat.
Welche Erfahrung haben Sie in diesem turbulenten Jahr gemacht, die Sie weitergebracht oder geprägt hat?
Ich habe die Bestätigung dafür erfahren, wie wichtig es ist, im Leben eine Berufung zu haben. Was man jeden Tag macht, sollte sinnerfüllt sein, und das wurde dieses Jahr besonders deutlich: Für meine Leute war es zum Beispiel eine unglaubliche Erleichterung, als sie nach dem Lockdown wieder arbeiten durften. Und für unsere Gäste waren wir eine Quelle der Freude und des Genusses. Das geht weit über die Konsumation eines feinen Menüs hinaus.
Und was bedeutet das für sie?
Es hat sich vielleicht dadurch eine noch grössere Zufriedenheit eingestellt. Zufrieden zu sein mit dem, was ich habe, ist für mich noch wichtiger geworden, und immer weniger wichtig wird der Gedanke an das, was sonst noch sein könnte.
Zur harten Realität: Was sagt Ihre Buchhaltung zum Jahr 2020?
Wir sind grossartig gestartet und konnten auf der Welle der Auszeichnung zum Koch des Jahres reiten, bevor im Frühjahr das abrupte Ende kam. Nach dem Lockdown ging es wieder gut los, wir hatten den besten Juni aller Zeiten – auch ohne Art Basel oder grosse Gesellschaften. Und Anfang Dezember war dann wieder nichts. Ich hadere nicht mit der Situation, das bringt ja nichts. Aber dass einem der Staat ein Berufsverbot auferlegt, ohne einen dafür zu entschädigen, finde ich schon schwierig.
Was haben Sie sich fürs nächste Jahr vorgenommen?
Ich möchte dieses Gefühl der Zufriedenheit mit mir selbst bewahren können. Und diese Freude, die ich täglich im Zusammenleben mit meiner Tochter Emma erfahre, möchte ich bewahren und weiter zelebrieren können.
Welches war das schönste Kompliment, das Sie 2020 bekommen haben?
Wenn sich Leute inspiriert fühlen durch das, was wir machen, ist das etwas von Schönsten überhaupt. Wenn meine positive Energie sich auf andere überträgt, wenn Freude geteilt wird, ist das grossartig. Kürzlich war eine Frau im «Stucki», deren Mann nicht mehr mitkommen kann, weil er zu krank ist. Er wollte aber unbedingt, dass sie sich diesen Abend gönnt. Ich stand bei ihr am Tisch, sie hat mir die Geschichte erzählt und ein kleines Geschenk überreicht. Das war ein so berührender Moment, dass wir beide geweint haben. Solche Begegnungen gab es dieses Jahr immer wieder und das zeigt mir, dass ein Restaurant viel mehr bedeutet, als bloss Essen zu servieren.
Im Moment, wo wir Freiheiten zurückerhalten: Wohin reisen Sie als erstes?
Am liebsten nach Stockholm, da waren Emma und ich die letzten Jahre immer im Sommer. Aber dieses Jahr fühlte sich Reisen und Fliegen einfach nicht richtig an.
Und bei wem wollen Sie unbedingt noch essen?
In Stockholm möchte ich unbedingt zu Björn Frantzén ins «Frantzén», das fehlt mir in meinem kulinarischen Erfahrungsschatz.
Sie haben mit «Tanja vegetarisch» einen Bestseller veröffentlicht. Ist vegetarische Küche ein Thema, dem Sie sich noch stärker widmen wollen?
Mich hat das Thema schon immer interessiert, das Vegi-Menü im «Stucki» gibt es schon, seit ich hier angefangen habe. Für mich ist das deshalb eine Selbstverständlichkeit und nicht etwas, dem ich mich speziell widmen muss.
Gemüse war bei vielen Spitzenköchen in letzter Zeit ein grosses Thema. Welcher Trend kommt als nächstes?
Gemüse ist ein Trend, der anhält. Das Bewusstsein der Leute, dass einem Gemüse guttut, dass niemand dafür sterben muss, nimmt zu. Bei vielen Köchen setzt sich zudem die Erkenntnis durch, dass man wahnsinnig viel mit Gemüse machen kann. Und schliesslich gibt es immer mehr Produzenten, die eine beeindruckende Vielfalt an Sorten anbieten.
Gibt es ein neues Phänomen, das sich in der Spitzenküche abzeichnet?
Ich beobachte eine neue Freiheit: Die regionale Küche wird nicht mehr so streng und dogmatisch gesehen; auf den oft etwas verkrampften Umgang mit dem Thema folgt eine angenehme Lockerheit.
Womit verbringen Sie Ihre Freizeit?
Meistens in Ruhe zu Hause oder draussen in der Natur. Immer wenn Emma zum Reittraining geht, mache in der Nähe des Stalls einen langen Spaziergang im Wald. Und sonntags laden wir meistens ein, zwei Personen ein, für die ich dann koche. Ich bin sehr gerne in meiner Wohnung. Sie hat mir immer schon gefallen, aber jetzt habe ich noch ein Zimmer gestrichen, viele Pflanzen angeschafft, und jetzt ist die Wohnung perfekt.
Was befindet sich immer in Ihrem Kühlschrank?
Es hat immer saisonale Früchte für Emma darin, zurzeit zum Beispiel Mandarinen, Pomelo oder Grapefruits. Champagner, Bio-Naturjoghurt und Hafermilch für unseren Matcha-Latte am Morgen darf nie fehlen und ein Pecorino findet sich auch immer, weil wir den Käse brauchen, wenn es Pasta gibt.
Was essen Sie aus Prinzip nie?
Foie Gras esse ich nicht, das widerstrebt mir einfach. Ausserdem treffen Würste und Speck meinen Geschmack nicht, auch wenn ich immer wieder mal probiere.
Welches war Ihr erfolgreichster Instagram-Post in diesem Jahr?
Das Foto mit unserem Team auf der Treppe vor dem Restaurant bekam gegen 2300 Likes fast 100 Kommentare. Und die Reaktionen auf das Buch «Tanja vegetarisch» sind enorm. Ich bekomme jeden Tag Storys und Nachrichten dazu.
>> Was war, was kommt? Der GaultMillau Channel zieht Bilanz: Mit zehn Starchefs, die in diesem speziellen Jahr mit individuellen, besonderen Herausforderungen konfrontiert waren. Tanja Grandits, Sebastian Zier, Stefan Heilemann, Nenad Mlinarevic, Ivo Adam, Tobias Funke, Laurent Eperon, Bernadette Lisibach, Marco Campanella und Markus Stöckle im sehr persönlichen Chef's Talk.
>> Fotos: Digitale Massarbeit, Lucia Hunziker