Text: Siméon Calame I Fotos: Julie de Tribolet

Kuchen als Kunstwerke. Seine Kreationen kennt man besser als ihn selbst. Was ja vielleicht mit seiner Bescheidenheit zu tun hat. Hat man nämlich das Glück, Josselin Jacquet gegen 11 Uhr in der Lounge des Hotels Valrose zu treffen, wenn er den Dessertwagen auffüllt - gut möglich, dass er behaupten wird, dass er hier «nur Kuchen gebacken» habe. Pures Understatement! Denn die Süssigkeiten, die er in die fahrbare Vitrine legt, sind eher zu vergleichen mit einem essbaren Frühling à la Vivaldi oder einer essbaren Venus im Stile Milos. Die Rede ist vom Chefpatissier des 18-Punkte-Lokals in Rougemont VD. Seit der Eröffnung vor bald zwei Jahren setzt Benoît Carcenat, unser «Koch des Jahres 2023», auf den 31-Jährigen. Großes Foto oben: Josselin Jacquet an der Tafel des Valrose. 
 

Der missratene Apfelkuchen. «Zwischen Josselin und mir war es beruflich Liebe auf den ersten Blick», sagt Benoît Carcenat augenzwinkernd. Seit sie sich im Restaurant Hôtel de Ville in Crissier 2011 begegnet seien, habe er noch nie ein so gutes Einvernehmen mit einem Kollegen erlebt: «Und das geht weit übers Kochen hinaus.» Die erste Erinnerung an den gebürtigen Savoyarden? Das sei drei Wochen nach Jacquets Start in Crissier gewesen: «Er sollte einen Apfelkuchen für einen Werbeclip backen, den Chefkoch Benoît Violier am Nachmittag drehen wollte», erinnert sich «Benoît, der Zweite». Kurz bevor er das Backwerk aus der Küche schicken wollte, brach es zusammen - und Jacquet sei ein wenig in Panik geraten. «Ich ging hin und half ihm, einen neuen Kuchen zu machen - wir hatten viel Spass dabei!» An dieses Erlebnis zurückdenkend muss der Konditor lachen - und sein Chef klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter. 

ROMANDie statt Hongkong. Naheliegend, dass Carcenat im Frühjahr 2021 Jacquet anrief, als er das Restaurant eröffnete, das zum neuen Stern am gastronomischen Himmel der Romands werden sollte. «Eigentlich wollte ich ja nach Hongkong gehen», so der Zuckerbäcker. «Aber Covid hat meine Pläne vereitelt!» Geplant war bloss eine zweimonatige Anstellung im Valrose, «um dem Team beim Start unter die Arme zu greifen.» Inzwischen dauere die Zusammenarbeit bald zwei Jahre - und er hoffe, dass es noch lange so weitergeht!  
 

DEN ELTERN DANKBAR. Der Unterstützung seiner Eltern Roland und Sandrine kann er sich dabei gewiss sein: «Josselin hat sehr früh mit dem Backen angefangen, nachdem er mir oft dabei zugesehen hat», erinnert sich seine Mutter. Nach einem entsprechenden Praktikum während der Schule entschied er sich für eine Laufbahn als Bäcker/Konditor. Seine Ausbildung absolvierte er in Aix-les-Bains und in Annecy, etwa 15 km vom Elternhaus entfernt. «Drei Jahre lang sind meine Eltern täglich um 5 Uhr morgens aufgestanden, um mich zur Arbeit zu fahren», erinnert sich Jacquet. Er könne ihnen nie genug für alles danken, was sie für ihn getan hätten. 

 Hôtel Valrose à Rougemont le Chef pâtissier, Josselin Jacquet

Mehr als «nur Kuchen»: Der tolle Dessertwagen im Valrose!

SCHWARZWÄLDER TORTE BEI OMA. Nach seiner Ausbildung arbeitete Jacquet über zwei Jahre im Hotel Martinez in Cannes. Dort lernte er den dortigen Chefkoch David Bonet kennen, der sich gut an die Ausdauer des Teenagers erinnert: «Er war von zierlicher Gestalt, aber ein unerschrockener Jüngling. Er wagte es, sich selbst in Frage zu stellen.» Und habe auch nicht gezögert, nach Feierabend zu bleiben, um noch mehr zu lernen, so Bonet, der heute als Betriebsleiter der Lenôtre-Gruppe in Thailand tätig ist. Damals entdeckte Jacquet, so fügt er an, seine Begeisterung für Schwarzwäldertorte. Die habe er jeweils bei seiner Grossmutter gegessen. «Weil Papa keine Schokolade mag», präzisiert er flüsternd.  
 

Hoher Suchtfaktor. Vielleicht hat es auch genau darum in diesem Frühling ein Küchlein mit eingelegten Kirschen im Dessertwagen. Eine Geschmacksbombe mit hohem Suchtfaktor! Benoît Carcenat jedenfalls findet: «Als letzte Geste der Küche für den Gast sind Josselins Desserts perfekt.» Es sei schliesslich keine leichte Aufgabe, den Gast einerseits nicht mit allzu schweren Nachspeisen zu erschlagen, aber andererseits doch ein letztes Ausrufezeichen zu setzen. Welches Dessert seines Patissiers hat dem Starchef denn bisher am besten gefallen? Er zählt gleich eine Handvoll Gerichte der letzten Speisekarten auf. 

 Hôtel Valrose à Rougemont le Chef pâtissier, Josselin Jacquet

Die Dessertequipe im Valrose: Pierre Goubil (l.), Josselin Jacquet (m.) und Antoine Ménage (r.).

Aromen statt bloss Süsse. Die Birne mit Meyer-Zitrone, die das derzeitige Menü des Restaurants gleich beim Bahnhof von Rougemont abschliesst, steht symbolisch für die Feinheit und die Präzision, die Josselin Jacquet an den Tag legt: Farben, Texturen, Ästhetik, Überraschung, alles ist da - ausser der Zucker. Und das macht Jacquet wohl auch aus. Man könne ein Dessert wegen seiner Süsse geniessen, sagt er selbst, aber auch wegen der Aromen. Er tendiere zu zweiterem, «auch wenn dies immer wieder zu Diskussionen mit Pierre und Antoine führt!» Pierre Goubil und Antoine Ménage, seine beiden Assistenten, sind ebenso diskret wie ihr Chef - aber man kann ihnen dann doch entlocken, dass die Arbeit an Jacquets Seite ein Glücksfall für sie sei. Und dass sie gerade von seiner Sensibilität enorm viel lernen. Und was erwidert da Jacquet? Dass er nichts ohne die Zustimmung seiner beiden Mitarbeiter auftischen würde. Als wenn es noch einen weiteren Beweis für seine Bescheidenheit gebraucht hätte.  

 

www.valrose.ch