Text: Kathia Baltisberger Fotos: Thomas Buchwalder
Tessiner Spezialität. Es ist nur ein ganz schmaler Weg, der aus dem Dörfchen Brione ins Val d’Osura, einem Seitental des berühmteren Verzascatal führt. Ein Auto hat gerade so Platz, kommt ein anderes entgegen, hat man ein Problem. Nach etwa 2,5 Kilometer Strecke – Achtung, es hat Schafe auf der Strasse! – kommt man zum Ziegenstall von Pascal Favre. «Bonjour», begrüsst er seinen Gast, Mattias Roock, 18-Punkte-Chef vom Swiss Deluxe Hotel «Castello del Sole». Die beiden kennen sich seit rund drei Jahren. Damals war Roock auf der Suche nach einem Gitzi-Bauern für sein Menü «Sapori del nostro orto» – schliesslich ist das zarte Ziegenfleisch eine Spezialität in seiner Wahlheimat Tessin. Über den Schweizer Ziegenzuchtverband wurde er auf Pascal Favre aufmerksam. «Pascal war zunächst sehr skeptisch. Viele interessieren sich für Gitzifleisch, doch wenn sie sehen, was das kostet, sind sie nicht bereit den Preis zu bezahlen», erklärt Roock. Mittlerweile ist Roock Favres bester Kunde – denn er weiss das wertvolle Fleisch zu schätzen.
Seltene Rasse. Favre hält hier 60 Ziegen. 2019 gab es 59 Gitzi. «Unsere Ziegen haben einmal pro Jahr Junge», erklärt der Romand Favre. «Möglich wären auch zwei Junge pro Jahr. Aber das möchte ich nicht.» Bei den Ziegen handelt es sich um Nera Verzasca, eine ursprüngliche Tessiner Rasse und Pro Specie Rara. «Bei der Milchproduktion sind sie nicht so ergiebig», erklärt Favre. Ergo nicht so interessant für viele Bauern. Dem 65-Jährigen ist das egal. «Ich möchte etwas für diese Rasse tun. Viele kreuzen die Rassen, um mehr Milch zu produzieren. Aber dadurch verlieren sie auch an Muskeln und den Instinkt draussen zu fressen. Ich habe lieber weniger, dafür eine bessere Qualität.» Und das Gitzifleisch ist von hervorragender Qualität. Im Sommer sind die Ziegen 800 Meter weiter oben auf der Alp. «Meine Frau und ein freiwilliger Helfer kümmern sich dann 100 Tage um die Tiere.» Zäune gibt es weder auf der Alp noch unten beim Stall. «Die können hin, wo sie wollen. Morgens um 6 Uhr kommen sie zurück. Sie sind immer pünktlich.»
Vom Lehrer zum Ziegenhirten. «Athena, Batavia, Aurora!», ruft Favre liebevoll seinen Ziegen. Die Namenswahl folgt einem genauen System: Alle Tiere eines Jahrgangs fangen mit demselben Buchstaben an. Und wenn die Muttergeiss einen Blumennamen hat, kriegt auch das Junge einen floralen Namen. Yucca, Cactus oder Échinacea. Auch Steine sind beliebt: Hématite, Jade oder Jaspe. Unser Lieblingsname ist aber Friandise. Favre kümmert sich mit einer unglaublichen Hingabe um seine Tiere. Dabei ist er kein Bauernsohn, sondern Primarlehrer. Der Mann aus Neuchâtel hörte vor 35 Jahren einen Bericht im Radio DRS über einen Ziegenhirten im Verzascatal. Dieser Mann wünschte sich, dass auch noch andere Menschen seinen Beruf hier ausüben würden. Favre kontaktierte den Mann und beschloss mit seiner Frau ins Tessin zu gehen. «Das ist meine Berufung», erklärt er den Entscheid. Das war vor 35 Jahren.
Lokale Produkte. Die Nachfrage nach Gitzi sei im Tessin nicht grösser als auch schon. Die sei um Ostern immer konstant hoch. Eine traditionelle Spezialität halt. Deshalb ist Gitzi auch für Mattias Roock so interessant. «In meinem Menü Sapori del nostro orto verwende ich das Fleisch für den Hauptgang», sagt Roock. Dieses Menü ist eine rein lokale Angelegenheit. Die meisten Zutaten stammen aus den Terreni alla Maggia, dem zum Living Circle gehörenden Landwirtschaftsbetrieb, sowie aus dem Hotel eigenen «Schlossgarten». 50 Vorbestellungen sind bereits eingegangen. «Ich habe acht Tiere gekauft. Wenn die weg sind, kommt ein neuer Hauptgang ins Menü.» Und wie bereitet der Chef das Tier nun zu? «Ich schmore es im Ofen. In unserem weissen Merlot und mit Kräutern aus dem Hotel-Garten und rolle es dann ein. Die Milken kommen separat dazu und obendrauf gibt es noch etwas Geisskäse – ebenfalls von Pascal Favres Ziegen.» Roock serviert dazu ein Dreierlei von der eigenen Polenta: einen Espuma, gebratene Polenta und eine Polenta-Chip.