Text: David Schnapp | Fotos: Thomas Buchwalder
Kaffee und Gipfeli. Den ersten Kaffee bereitet Mitja Birlo selbst an der grossen Maschine in seiner Küche zu, dann nimmt er ein Gipfeli aus der hauseigenen Bäckerei – «für unterwegs», wie er sagt – und macht sich auf den Weg. Montag, 7.30 Uhr im «7132 Hotel» in Vals. Der Küchenchef des «7132 Silver» rollt in einem neuen Mercedes EQB lautlos die Einfahrt hinunter. Das Elektroauto mit Stern ist der Dienstwagen für den Koch des Jahres 2022. Seit er mit dem wichtigsten Titel in der Schweizer Gourmetwelt geehrt worden sei, habe sich sein Leben zwar nicht komplett verändert. «Ich bin noch derselbe, aber das Restaurant ist fast immer ausgebucht», sagt Birlo. «Und ich fahre jetzt Mercedes», fügt er lachend hinzu.
30 Minuten Ladestopp. Milano ist das Ziel der heutigen Tagesreise. Die italienische Metropole ist von Vals aus in vier Stunden zu erreichen, rund 30 Minuten Ladestopp an einer Gofast-Säule auf der Raststätte Coldrerio inbegriffen. «Ich lebe gerne in Vals, aber die Art und Anzahl der Eindrücke, die man hier bekommt, ist natürlich limitiert. Da ist ein Kurztripp nach Mailand schon eine lohnenswerte Abwechslung, die ich einige Male im Jahr suche», sagt Birlo, während er der voll-elektrische SUV mit seinen bis zu 474 Kilometern Reichweite gelassen durch den gewohnt unberechenbaren italienischen Autobahnverkehr lenkt. Mit Italien verbinden den 36-jährigen Koch, der grösstenteils in Berlin aufgewachsen ist, auch sentimentale Momente: «Die Familienferien verbrachten wir meistens in Italien, sehr oft in Ligurien. Der salzige Olivenölgeschmack einer luftigen Focaccia ist für mich bis heute eine prägende Kindheitserinnerung», sagt Mitja Birlo.
Goldene Klingel. Mailand ist mittlerweile erreicht, der schicke EQB in einer passenden Lücke am Strassenrand parkiert. Erstes Ziel ist die Trattoria Arlati in 20126 Milano, wo sich Gäste mit einer goldenen Klingel neben einer unscheinbaren Tür ankündigen. Das Restaurant eröffnete anno 1936. Im Eingangsbereich hängen Fotos von prominenten Besuchern aus der langen Geschichte des Lokals. Hollywoodstar Silvester Stallone kam schon vorbei, viele Künstler oder Intellektuelle zählen bis heute zur grossen Stammkundschaft. In der liebevoll mit Bildern und Skulpturen eingerichteten Gaststätte, die an ein vornehmes Brockenhaus erinnert, und im gemütlichen Weinkeller mit Konzertbühne wird traditionelle Küche serviert. Natürlich gibt es Tagliata vom Rinderfilet, Strozzapreti al ragù und Ossobuco. Der Risotto Milanese dazu ist nach Art des Hauses oben leicht knusprig gebraten. «Ich habe grosse Freude an klassischer italienischer Küche. Das ist ja eigentlich Armeleuteessen – etwas deftig vielleicht, aber mit Herz», findet Birlo.
Hochhaus mit 900 Bäumen. Danach geht es am eindrücklichen «vertikalen Wald» vorbei in Richtung Stadtzentrum. Die zwei mit rund 900 Bäumen bepflanzten Hochhaustürme sind quasi das neue Wahrzeichen eines modernen Mailand mit ökologischem Bewusstsein –und somit ein passendes Ausflugsziel für Elektroautofahrer. Dann geht es auf einen Espresso in den Gourmetsupermarkt Eataly – das Konzept der Kette ist von New York über München bis in die Hauptstadt der Lombardei ein Grosserfolg: eine Mischung aus Spezialitätenladen, Weinhandlung mit Restaurants, Take-away-Theken und mehr. Birlo macht sich nach einem Streifzug durch die vielen Etagen mit einem Stück Guanciale – Kopfspeck vom Schwein für die klassische Carbonara-Sauce – und einer Packung Pasta wieder auf den Weg.
Die besten Adressen. Mailand ist eine Metropole des guten Essens, und Mitja Birlo hat mittlerweile ein kleines Adressbuch voller empfehlenswerter Lokale beisammen. Für die Küche der «Langosteria» wird der Fisch von den Verantwortlichen täglich frisch am Mailänder Fischmarkt eingekauft. Das Restaurant ist deshalb eine erstklassige Anlegestelle für Meeresküche. Er suche auf einem Ausflug wie diesem keine Vergleichsmöglichkeiten für sein eigenes Restaurant, sagt Birlo. «Mein Eindruck ist auch, dass italienische Restaurants oft scheitern, wenn sie die traditionelle Küche auf ein schickes Gourmetniveau heben wollen», so der Koch, der souverän auf 18-Punkte-Höhe arbeitet und mit zwei Sternen bewertet wird. Für eine Pizza aus dem mächtigen verklinkerten Holzofen geht Birlo gern in eine der «Da Zero»-Filialen. Die Macher legen hier Wert auf Handwerk und gute Zutaten; Tomaten, Olivenöl DOP oder Mozzarella sind sorgfältig ausgewählt. Im «Ceresio 7» trifft man die modebewussten Mailänder beim Feierabend-Aperitivo, und sobald es die Temperaturen erlauben, sitzt man draussen auf der Terrasse an einem der beiden Pools – schliesslich hat das Lokal für ein trendbewusstes Publikum auch noch eine Filiale in Mykonos.
Die italienische Art. Dass der Feierabend begonnen hat, ist jetzt am deutlich gesteigerten Verkehrsaufkommen zu spüren, aber der lautlose schnelle Antritt des elektrischen EQB erlaubt es Mitja Birlo, auf authentische italienische Art nahtlos ins hektische Strassengeschehen einzufädeln. Bevor es wieder auf die Autobahn Richtung Chiasso geht, bleibt noch Zeit für einen Espresso und ein Stück sizilianisches Dolce Vita in der kleinen Kaffeebar «Made in Sicily», wo hinter der Glastheke Patisserieklassiker wie Cassata, Cannoli mit Ricottafüllung und Pistazien oder saftige Babas liegen.
Schmeckt es? Ist ein kulinarischer Kurztrip wie dieser für den Koch des Jahres bloss Vergnügen und Tapetenwechsel oder auch Quelle der Inspiration?, lautet eine der Fragen, die sich auf der Heimreise im bequemen Reisegefährt stellen, und die der Punktekoch so beantwortet: «Es gibt keinen festen Ablauf für kreative Gedanken. Sie können von überall kommen: vom Besuch in einer Stadt, von den Ferien in Thailand oder – am häufigsten – einfach aus dem Bauch. Am Ende ist für mich als Koch nur eine Frage entscheidend: Schmeckt es oder nicht?» Mailand, so viel lässt sich bei Eindunkeln auf der Autobahn sagen, hat geschmeckt.