Fotos: Remy Steiner
«Blue Man Group.» Arbeitsbeginn am Samstagmorgen ist 9 Uhr, meine gebügelte schwarze Kochjacke, die geschliffenen Messer – selbst eine Pinzette! – habe ich zwar im Gepäck, aber Silvio Germann händigt mir als erstes eine blaue Arbeitsuniform aus. Und schon bin ich Teil der «Blue Man Group», so hat Tim Mälzer einmal die Küchenchefs aus dem Unternehmen von Andreas Caminada bezeichnet. Alle jung, gutaussehend, sorgfältig frisiert – und mit blauen Kochjacken ausgestattet. Nur die weissen Turnschuhe und die Skinny Jeans fehlen mir (und natürlich einige Lebensjahre weniger), um mich nahtlos ins junge «Mammertsberg»-Team einzufügen.
Freundlicher Leader. Gleich gegenüber der Bahnstation Roggwil-Berg liegt das ehemalige Schloss und heutige Restaurant und Boutique-Hotel, das Silvio Germann seit Anfang 2022 führt. Der Koch des Jahres 2024 und seit kurzem Markenbotschafter von Mercedes-Benz hat einen ausgezeichneten Ruf als ebenso umsichtiger wie talentierter Küchenchef. Er hat das erste «Igniv by Andreas Caminada» im Grand Resort Bad Ragaz aufgebaut und einige Jahre höchst erfolgreich geführt, ist ein äusserst freundlicher Teamleader und dazu ein durchwegs angenehmes Gegenüber. Darüber will ich bei meinem Praktikum ebenso etwas erfahren, wie darüber, was es heisst, an einem gut gebuchten Samstagabend Gäste auf dem Niveau von 18 GaultMillau-Punkten und zwei Michelin-Sternen zu bewirten.
Kühle frische Seezungen. Auf der Arbeitsfläche – Blick durch eine Bambus-Sichtschutz auf den Bodensee – liegen für mich zwei kühle frische Seezungen bereit. Sous-Chef Lukas Messmer, ein freundlicher junger Deutscher mit beachtlicher Erfahrung in Top-Restaurants, führt mich in die Anatomie des Plattfisches ein und zeigt mir, wie man die vier Filets sauber von den Gräten schneidet. Die Arbeit erfordert im Wortsinn Fingerspitzengefühl und ist, typisch für das hier gepflegte hohe Niveau an Küchenkunst, nur der erste von vielen weiteren Verarbeitungsschritten, bis der Fisch am Ende in einer relativ schlichten Kombination mit schwarzem Knoblauch und Beurre Blanc auf dem Teller liegt. Aber zunächst werden jeweils zwei Filets mit wenig Eiweisskleber (Transglutaminase) aufeinander montiert und in Frischhaltefolie gerollt. So können sie dann bei 50°C sanft gedämpft werden und werden vor dem Servieren in reichlich Butter gebraten.
Frauen sind wichtig. Bevor es weitergeht, ist um 11 Uhr Zeit fürs Frühstück beziehungsweise Mittagessen. Silvio Germann achtet darauf, dass sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – acht in der Küche, sieben im Service – zweimal am Tag hinsetzen und miteinander essen. Aber der Chef des Hauses gibt auch zu, dass untereinander nicht immer nur sonnige Harmonie herrsche. «Dann müssen wir uns hinsetzen und die Dinge ansprechen», sagt er. Wichtig für eine gute Arbeitsatmosphäre sei zum Beispiel die Mischung der Leute. Wenn Frauen mitkochen, senke das beispielsweise die männliche ‹Wir sind die grössten-Attitüde›. «Jeder hilft dem andern», lautet das inoffizielle «Mammertsberg»-Motto. Die begabte Patissière Stephanie Mittler etwa ist sich nicht zu schade, Gläser zu polieren, während sie auf ihren Einsatz wartet, der während dem Service naturgemäss immer etwas später erfolgt als beim Rest der Kolleginnen und Kollegen.
Mit ruhiger Hand. Bevor der Mittagservice beginnt, habe ich noch dünne Scheiben von «alter Kuh» aus der Hinterhofmetzgerei in Staad für ein Tatar in feine Würfel zu schneiden. Den Trick muss ich mir merken: Das Fleisch wir angefroren, in Scheiben geschnitten und aufeinandergestapelt, so lässt es sich später einfach erst in Streifen und dann in Würfel zerteilen. Dann kommt Bewegung in die blau gewandete Truppe, zum «Mammertsberg»-Ritual gehört, dass den Gästen die ersten Kleinigkeiten in einer grosszügigen Lounge auf der ersten Etage des Restaurants serviert werden. In der Mitte des Raumes steht eine Arbeitsinsel, wo vom Team jetzt Feinmechanik gefragt ist.
Auf dem Rettich-Posten. Mir werden die Rettichröllchen zugeteilt, statt scharfen Messern braucht es jetzt die Pinzette und eine ruhige Hand, was für jemanden mit limitierten feinmotorischen Fähigkeiten durchaus eine Herausforderung ist. Es gilt, mit einem kleinen Spritzsack auf die Rolle von etwa drei Zentimeter Länge (und zehn Millimetern Durchmesser) erst eine Creme aufzutragen. Darauf wird knuspriges Getreide gestreut, darauf wiederum kommen genau drei stecknadelgrosse Tupfer eines Zitrus-Gels, in welches wiederum feine Dillspitzen gesteckt werden, bevor alles zum Schluss mit feinem Kimchipulver bestäubt wird. Nach einem Dutzend montierter Röllchen gebe ich mir selbst das leise Versprechen, das oft etwas abschätzig benutzten Wort «Pinzettenköche» nur noch höchst respektvoll einzusetzen.
«Powernap» und Pasta. Der Mittagservice ist schnell vorbei, ich suche mir einen ruhigen Ort im grossen Haus für einen «Powernap», der Abendservice verspricht schliesslich länger und intensiver zu werden. Ein nicht ganz unwichtiges internes Thema heute ist der «Pasta-Samstag», eine Tradition die auf Schloss Schauenstein geboren und etabliert wurde, und auch im «Mammertsberg» gepflegt wird. Bevor es mit dem Service losgeht, essen alle zusammen Spaghetti – heute schlicht «aglio e olio». Ich schöpfe zwei Portionen aus dem grossen Topf, der gesteigerte Energiebedarf für die Arbeit in der Küche muss ja irgendwie gedeckt werden.
Danach wird der Rhythmus spürbar schneller: Ich bin erst zurück am Rettich-Posten, danach wird bei steigendem Adrenalinpegel in der Küche in schneller Abfolge «geschickt», wie das in der kulinarischen Umgangssprache heisst. Es gibt heute Stammgäste, die wollen spätestens um 20 Uhr wieder gehen. Das Menü umfasst Kaisergranat, einen Raviolo mit Eigelb, die morgens filetierte Seezunge, rosa gebratener Rentierrücken und ein leichtes frisches Dessert aus Quitte, Malzeis und Joghurtmousse. Das darf ich zum Schluss sogar noch probieren. Gastfreundschaft ist bei Silvio Germann nicht nur für Gäste, sondern auch für Praktikanten.