Text: David Schnapp Fotos: Thomas Buchwalder
Beim «Nenad des Nordens». Auf Sylt geht ein strammer Wind. Eigentlich geht er hier fast immer, es ist 14,5 Grad frisch, und Nenad Mlinarevic zieht sich knallgelbe Gummistiefel an. Anlass: Der Schweizer Spitzenkoch («Koch des Jahres 2016» im «Focus», Vitznau LU) hat eine kleine Autoreise an die Nordsee unternommen, um sich mit einem Kollegen vor Ort, Johannes King, auszutauschen. Eben noch sass der Zürcher entspannt im Fond des luxuriösen BMW M760 Li und schaute in die spektakuläre Landschaft hinaus. Nun drängt King zum Aufbruch. Der gebürtige Schwabe, der seit 1998 auf Sylt lebt, ist eine Art «Nenad des Nordens» und pflegt wie der Schweizer eine regionale Küche. So ähnlich die Konzepte der beiden Köche sind, so unterschiedlich sind ihre Ökosysteme und Herangehensweisen. Während King auf die Kraft des Meeres und auf wilde Kräuter aus Salzwiesen setzt, arbeitet Mlinarevic mit Gemüse von Schweizer Bauern, Früchten vom Haldihof in Weggis und Fleisch aus Ennetbürgen.
«Sylter Royal». Auf Sylt findet also ein Gipfeltreffen statt, und beide Köche haben eine Idee vom Kochen, die Johannes King «kulinarische Identität» nennt. Es gehe darum, das Essen mit dem Ort zu verbinden, an dem es serviert wird. Aber erst mal drängt die Zeit: Seit 8.41 Uhr ist Ebbe, das Meer hat sich weit zurückgezogen – bis zu dreieinhalb Meter kann der Unterschied, der sogenannte Tiedenhub, ausmachen. Der 54-jährige Johannes King führt seinen Schweizer Kollegen zu einer Austernbank im Wattenmeer, wo fünf Millionen der edlen Schalentiere langsam und natürlich wachsen, bis sie drei Jahre später als «Sylter Royal» zur Delikatesse werden. Nenad Mlinarevic steht in der Weite des feuchten Sandes der Süderheide, wo sich überall die charakteristischen Häufchen der Wattwürmer abzeichnen und 20 000 Lebewesen pro Quadratmeter leben. «Dieser Geruch!», ruft der junge Koch und atmet den jodigen Meeresduft tief ein. «Ich bin ja nun wirklich überzeugt von unserer regionalen Küche», sagt Mlinarevic, «aber der Geruch des Meeres fehlt mir schon am meisten von all den Dingen, auf die ich bewusst verzichte.»
Messer & Eisenhandschuh. Ein paar Kilometer weiter nördlich, vor der Wattenmeerstation am Königshafen, stapfen King und Mlinarevic wieder durch den Sand, suchen Blaumuscheln und probieren die gemüsig-salzig schmeckenden Spitzen des Blasentangs. Mit einem Austernmesser und einem Eisenhandschuh ausgerüstet, öffnet King dann eine wilde Auster, prüft kurz deren Beschaffenheit und reicht seinem jüngeren Kollegen die steinharte Schale mit dem weichen Kern. «Frischer kann eine Auster ja nicht sein», sagt Nenad und probiert die Spezialität, die wie keine andere den Geschmack des Meeres konzentriert.
Salicorn. Strandportulak. Strandwegerich. Mit kleinen Plastikgefässen waten die beiden Köche durch das knöcheltiefe Wasser, sammeln Algen und Muscheln. King unternimmt solche Touren auch mit Hotelgästen, die in einem der 15 Zimmer in seinem exklusiven «Söl’ring Hof» wohnen. Nenad Mlinarevic erzählt, wie er mit seinem Küchenteam einen Morgen beim Gemüsebauern verbracht habe, wie sie im Erdreich gewühlt und Karotten gezogen hätten: «Danach schaust du eine Karotte mit anderen Augen an.» King stimmt zu: Man überlege sich genau, wie viel von der Karotte abgeschnitten werde oder ob man sie tatsächlich schälen oder bloss waschen müsse.
Nach dem Ausflug ins Wattenmeer, in dem das Wasser schon wieder merklich gestiegen ist, geht es mit Fahrrädern über den Deich hinter dem «Söl’ring Hof» zu einer Salzwiese. «Naturschutzzone I, Unesco-Weltkulturerbe», sagt King und mahnt zur Vorsicht beim Betreten des fragilen Meeresbiotops. Hier pflückt der energische Schwabe Salzwiesenkräuter wie Salicorn, Dreizack, Strandportulak oder Strandwegerich, den er feinsäuberlich in Kunststoffboxen stapelt. Später werden sie in der Küche Gerichte wie Nordsee-Steinbutt «en papilotte» krönen und für einen besonderen Akzent sorgen.
«Zack!» Abends trifft man sich in Kings Küche, die offen am Kopf des gemütlichen Restaurants im «Söl’ring Hof» steht. Eine moderne Anrichte und ein Molteni-Herd stehen auf kleiner Fläche, und zehn Köche arbeiten für rund 40 bis 50 Gäste pro Abend. Das Tagesgeschäft erledigt der 30-jährige Küchenchef Jan-Philipp Berner, der seit 2013 Kings rechte Hand ist und schrittweise die kulinarische Leitung übernimmt, während der Patron sich mehr seinen Gästen und anderen Projekten widmen kann. Johannes King wirft eine Handvoll Meeresschnecken und Blaumuscheln in einen Topf, die sie am Morgen aus dem Wattenmeer gepickt haben. Er dünstet sie in Butter und löscht mit einem grosszügigen Schuss Noilly Prat ab. Dann ruft King: «Zack!» und trennt mit Mlinarevic die Schalen vom Fleisch. Die Meerestiere, etwas von dem Kochsud und ein paar Salzwiesenkräuter – und schon halten die beiden Chefs eine Schale voll Nordsee in der Hand.