Interview: Urs Heller Fotos: Martin/Le Figaro Magazine/laif

André Jaeger, für manche war Paul Bocuse ein eitler Gockel. Sie halten ihn wie viele eher für ein Genie.
Absolut. Monsieur Bocuse war ein Visionär. In den 60er-Jahren hat man in den grossen Hotels gegessen, in traditionellen Restaurants, in einfachen Brasserien. Bocuse ist ausgebrochen, aus eigener Kraft, hat sich von der schweren französischen Küche verabschiedet.

 

Als sonderlich leicht habe ich seine Küche nie empfunden. Er griff deftig in den Buttertopf!
Aufgepasst! Am Anfang der «Nouvelle Cuisine» kochte Paul Bocuse sehr leicht, modern, reduziert. Später kehrte er zurück zur grossen traditionellen «cuisine française». Weil er mit den Auswüchsen der «Nouvelle Cuisine» nicht leben konnte. Die hielt er für Quatsch.

 

Sie waren immer wieder bei ihm zu Gast. Wie haben Sie seine Küche in den letzten Jahren erlebt?
Als fabelhaft. Ich liebte seine «grosses pièces», seine Galantinen, seine Terrinen – und vor allem seine Saucen! Als Profi weiss ich: Saucen, die so tief sind und so glänzen, kriegt man nicht husch, husch hin. Da stecken viel Arbeit und viel Erfahrung dahinter.

 

«La Soupe aux truffes noires V.G.E.» mit der mächtigen Blätterteighaube geht in die Geschichte ein. Mehrere Generationen haben sich damit bereits die Zunge verbrüht. Hatten Sie die Valérie Giscard d’Estaing (V.G.E.) gewidmete Suppe auch mal im Programm?
Das verbietet der Respekt. Aber ich habe mir eine eigene Interpretation einfallen lassen: zweimal gekochte Taubenessenz. Foie gras. Ein rohes Taubenbrüstchen. Darüber dann der Blätterteig. Der Service hat den Gästen erklärt, was dahinter steckt: eine Hommage an Bocuse, der diese Suppe 1975 für den damaligen französischen Präsidenten kreiert hatte.

 

Paul Bocuse wirkte in der Öffentlichkeit sehr streng, fast abweisend, etwas arrogant mit seiner weissen Toque und den Trikolore-Farben am Kragen.
Zu Unrecht! Er war herzlich, witzig, den schönen Seiten des Lebens zugetan. Aber natürlich, er wusste, wer er war. An Selbstvertrauen fehlte es ihm nicht.

 

Sie selber kriegten von Michelin nie die Anerkennung, die Sie verdient hätten. Waren Sie da nie eifersüchtig auf Ikonen wie Bocuse?
Ich gebe zu, ich hatte meine Mühe mit Michelin. Die haben meinen Freigeist, meine eigene Denkweise, nie akzeptiert. Aber ich kriegte auch so meine Anerkennung: Mich hätte es mehr getroffen, wenn ich beim GaultMillau plötzlich den 19. Punkt verloren hätte. Deshalb haben wir auch jedes Mal eine Flasche Dom Pérignon entkorkt, wenn meine Höchstnote bestätigt wurde.

 

Bocuse wurde auch kritisiert: keine Bewegung mehr in der Küche!
Es gibt zwei Stilrichtungen. Eher traditionelle, klassische Köche wie Bocuse: die Haeberlins im Elsass, Franck Giovannini in Crissier, Peter Knogl in Basel. Sie alle stellen grosse Produkte kompromisslos in den Mittelpunkt und gehen meisterhaft damit um. Dann gibts junge Chefs wie Andreas Caminada, Nenad Mlinarevic oder Sven Wassmer. Die gehen einen anderen, bewundernswerten Weg. Nutzniesser ist der Gast: Er kann wählen, was er lieber mag.

 

Paul Bocuse war der erste Koch, der aus der Küche kam und seine Gäste begrüsste. Ist die Präsenz des Chefs eigentlich zwingend und im Menüpreis inbegriffen?
Ich finde, ja. Es ist in ambitionierten Restaurants unklug, sich nicht zu zeigen. Schon meine Grossmutter, eine Wirtsfrau im Aargauischen, brachte mir bei: Du musst den Gästen die Ehre erweisen.

 

Bocuse hatte noch drei Sterne, als er längst nicht mehr selbst kochte.
Stimmt. Aber er war oft präsent in seiner wunderbaren Küche mit dem alten Molteni-Herd, kontrollierte die Qualität, konnte sich auf seine Brigade verlassen. Seine neue Rolle beschrieb er mit dem ihm eigenen Schalk. «Ich bin in der Küche, trinke Champagner und zähle mein Geld», sagte er mir mit einem Augenzwinkern. Bocuse hat seine drei Sterne verdient. Bis zum letzten Atemzug.

André Jaeger

André Jaeger, langjähriger 19-Punkte Chef in der Fischerzunft Schaffhausen hat Paul Bocuse persönlich gekannt.

>> André Jaeger («Die Fischerzunft», Schaffhausen) gehörte Jahrzehnte lang zur kleinen Elite der 19-Punkte-Chefs. Er hat Paul Bocuse persönlich gekannt, bewundert und ihn regelmässig in Lyon besucht.