Text: Urs Heller I Fotos: Thomas Buchwalder
«Ich bin kein Vegetarier.» Osteria? Na ja: Um Salumi, Pasta und Risotti geht es in diesem hübschen Klein-Restaurant vor den Toren Luganos mit nur sieben Tischen und Gärtli überhaupt nicht. Eher um Kohlrabi, Mangold und Zwiebeln. Chef Piero Roncoroni, nach Jahren in England und in den Dreisterne-Küchen von Barcelona und San Sebastian, ist zusammen mit seiner Frau Mercedes, zurück in seiner Tessiner Heimat, mit ungewöhnlichem Konzept: Raffinierte Gemüseküche! «Aber», sagt Chef Piero, «ich bin selbst kein Vegetarier. 100% vegi ist nicht das Ziel.» Also gibt’s im Hauptgang Fleisch: Mal einen Chüngel, mal einen Manzo (Rindsbraten) oder ein Perlhuhn aus dem Tessin; wir kriegen den Schenkel, mit Saubohnen und Pilze, unter anderem auch mit «Cresta di lione» (Igel-Stachelbart, Löwenmähne). Mentor ist Xavier Pellicer, der in Barcelona für die «beste Gemüseküche der Welt» ausgezeichnet wurde. Grosses Bild oben: Piero Roncoroni mit seiner Frau Mercedes.
Zesten von der Cedro-Zitrone. Verblüffend bereits der Einstieg ins Menü: Eine einsame, weiche, italienische Spargel liegt da auf einem kleinen Teller, mit einem dünnen Streifen Olivenpaste und vor allem mit einer unglaublichen Blumenkohl-Crème; was der Chef aus diesem oft langweiligen Gemüse herausholt, ist beeindruckend. Dann ist «foglia acida» angesagt: Mangold in allen Konsistenzen, Spinat-Sauce, «agrumi». Ein Orangensorbet etwa und Zesten von der seltenen Tessiner Cedro-Zitrone, die beim Nachbarn im Garten wachsen. Ein wunderbares Löffelgericht.
«Streetfood» in Comano. «Streetfood» ist das Thema im nächsten Gang: Ein warmes, weiches Bao mit Kohlrabi. Den gibt’s ganz, in Soja zubereitet und auch als Crème. Geräucherte Ricotta aus dem Verzascatal ist die dritte Komponente im Teller. Im «Centro» ist «no foodwaste» angesagt. Also wird die ganze rote Zwiebel verwertet; die «B-Teile» kommen in die Sauce. Die Zwiebel muss man erst entdecken: Ein verblüffender Schaum aus Pinienkernen, frisch aus dem Thermomix, liegt drüber. Vorlage für diese Kreation: Die Komponenten, die spanische Chefs für ihre «Ajo Blanco» verwenden. Gemüse bis hin zum Dessert: Sellerieknolle und Apfel. - Weine von kleinen Produzenten (inkl. Orange-Weine), Gazosa statt Coca-Cola.
Die Kupferpfannen des Grossvaters. Piero Roncoroni und seine Frau Mercedes sind gekommen, um zu bleiben. Sie haben die ursprünglich eher hässliche Osteria im Zentrum von Comano liebevoll und geschmacksicher umgebaut. Piero kocht auf alten Kupferpfannen seines Grossvaters und bringt viele Gerichte selbst an den Tisch. Gut so, denn Erklärungen zu den überraschenden Kombinationen sind willkommen. Auf der kleinen Weinkarte haben vorwiegend kleine Produzenten ihren Auftritt (inkl. Sektion «Orange»), in der Weinbegleitung kriegt man auch mal einen jungen «Castelrotto» von Christian und Myra Zündel. Weil die Familie Rocoroni immer grösser wird (auguri!), ist die verblüffendste Osteria im Tessin nur abends geöffnet. Chef Piero kann gut kochen. Ob er auch gut rechnen kann, bezweifeln wir ein wenig: Der Menüpreis (95 CHF) ist angesichts des unglaublichen Arbeitsaufwands für die fünf «portate» zu tief angesetzt. GaultMillau-Rating: 15 Punkte.