Interview: David Schnapp

Reto Brändli, Sie sind jetzt bald ein Jahr als Küchenchef in Berlin. Wie haben Sie sich eingelebt?
Ich bin super happy hier. Der Start war zwar hart – ich hatte nur wenig Leute in der Küche und viele Herausforderungen zu meistern. Aber seit drei, vier Monaten ist es richtig gut. Wir haben alle die gleichen Ziele und kriegen viel Unterstützung vom Hotel-Management. Auch das Geschäftsjahr war ausgezeichnet, unsere Zahlen sind sehr gut, die Gästezufriedenheit ist hoch.


Sie sind aus dem «Kempinski» in St. Moritz ins Adlon gewechselt: Muss man sich einen solchen Transfer vorstellen wie bei einem Fussballer? Man zieht seine Kochjacke an, packt die Messer aus und macht da weiter, wo es am alten Ort aufgehört hat?
Nicht ganz, ich hatte zum Beispiel nicht nur meine Messer, sondern zusätzlich 250 Kilogramm Material hierhin mitgenommen: Dabei war etwa Geschirr für die Appetizer, das mir privat gehört. Weil ich kein EU-Bürger bin, war das alles sehr kompliziert mit dem Zoll. Und auf meine offizielle Arbeitsbewilligung habe ich sieben Monate gewartet. Schliesslich musste ich das ganze Leben neu organisieren, nur meinen Handyvertrag und das Auto habe ich noch.


Was sind für Sie die grössten Unterschiede zwischen St. Moritz und Berlin bisher?
Jetzt habe ich drei Tage frei, weil wir eine Vier-Tage-Woche haben. Das ist wirklich cool. Und ich habe inzwischen für gleich viele Tische doppelt so viele Köche, das macht das Arbeiten sehr viel angenehmer und gibt mir natürlich mehr Möglichkeiten.
 

Chefkoch Reto Brändli. Restaurant "Lorenz Adlon Esszimmer" im Hotel Adlon in Berlin.

Senkrechtstarter Brändli: «Ich bin super happy hier in Berlin».

Sind mehr Köche immer besser?
Die Arbeitsgesetze hier sind sehr streng, man darf maximal zehn Stunden pro Tag arbeiten und muss also ausreichend Personal haben. Aber dadurch ist unsere Mitarbeiterzufriedenheit viel höher, die Leute sind spürbar fitter, und die Konstanz ist höher.


Kochen Sie im «Lorenz Adlon Esszimmer» anders als zuvor in St. Moritz?
Ich koche vielleicht ein wenig klassischer. Heute heute Abend gibt es zum Beispiel Wachteln als Ballotine. Wir hüllen Sie erst in ein hauchdünnes Petersilien-Omelett, dann kommen zwei verschiedene Farcen – eine davon mit Trüffel – und ein ganz feiner Speckmantel. In Berlin kocht niemand mehr so klassisch-französisch, aber der Stil passt sehr gut in dieses Haus. 


Wie haben sich Ihre Gerichte und Menüs in dem Jahr verändert, seit Sie im «Adlon» sind?
Eigentlich habe ich nichts geändert, meine Küche war immer schon klassisch, und ich wurde in dieser Hinsicht beispielsweise bei Benoît Violier in Crissier und bei Andreas Caminada in Fürstenau auch gut geschult. Es ist allerdings eine aufwendige Küche. In die Zubereitung der Miréal-Wachteln investiere ich alleine sechs Stunden pro Woche. Das ist fast ein ganzer Arbeitstag für bloss eine Komponente in einem Acht-Gang-Menü. 

Warum gerade Wachteln?
Ich hatte einfach Lust auf etwas, was fast niemand mehr hier macht. Das Gericht ist über einen Monat hinweg entstanden. Es brauchte etwas Entwicklungszeit: Der Speck muss die richtige Dicke haben, die beiden Farcen mussten im richtigen Verhältnis sein, damit der Garpunkt des Fleisches auf dem Punkt ist. Aber dieses Gericht wird fest auf der Karte bleiben – natürlich saisonal angepasst. Jetzt servieren wir es mit Wachtelsauce und einer Sauce Albufeira mit Périgord Trüffel. Für den Sommer habe ich dann eine Idee mit Estragon und Karotten. 


Müssen Sie in Deutschland anders führen als zuvor in der Schweiz?
Im «Adlon» wird sehr viel Wert auf den Umgangston gelegt. Hier arbeiten über hundert Auszubildende, Respekt und Höflichkeit sind deshalb wichtige Werte mit Vorbildfunktion. So wie man mit den Gästen spricht, geht man auch mit den Mitarbeitern um. Wir arbeiten im «Esszimmer» aber ein wenig in unserer eigenen Blase und funktionieren wie eine grosse Familie. Diese Unternehmenskultur der gegenseitigen Hilfsbereitschaft hat meine Aufgabe viel einfacher gemacht und meinen Start sehr erleichtert.


Der GaultMillau hat Sie als Schweizer Star im Ausland gewürdigt. Wie reagiert die deutsche Presse bisher auf Sie?
Das Feedback ist auch hier sehr gut. Der «Tagesspiegel», der hier in Berlin eine wichtige Stimme ist, war kürzlich begeistert; die frühere Chefredaktorin des deutschen GaultMillau hat mich gelobt. Ich bin allerdings in Bezug auf Journalisten-Besuche relativ entspannt, es kriegen alle dasselbe Menü. 
 

Chefkoch Reto Brändli und Gastgeber Oliver Kraft. Restaurant "Lorenz Adlon Esszimmer" im Hotel Adlon in Berlin.

«Meine Küche war immer schon klassisch»: Brändli in seiner Küche.

Restaurant "Lorenz Adlon Esszimmer" im Hotel Adlon in Berlin.

Seit Wochen ausgebucht: «Lorenz Adlon Esszimmer» im Hotel Adlon in Berlin.

Und was hören Sie von Ihren Gästen?
Wir haben Gäste dazugewonnen, und wir haben Stammgäste, die in acht Monaten schon zwölfmal hier reserviert haben. Viele schätzen es, dass sie nicht mehr in den Schwarzwald fahren müssen, um klassisch gut zu essen.


Als Koch haben Sie schon die verschiedensten Orte und Küchen gesehen. Was macht Berlin besonders?
Der Lifestyle ist speziell, die Stadt ist sehr multikulturell: In Berlin-Mitte, wo ich wohne, reden mehr Leute Englisch als Deutsch. Ich mag die Atmosphäre kreativer Freiheit hier: Es ist egal, wer du bist, wie du aussiehst, was du machst. Im deutschsprachigen Raum ist Berlin zurzeit «the place to be». Das macht die Stadt natürlich auch laut, hektisch und bisweilen anstrengend. 


Welche kulinarische Entdeckung haben Sie in Berlin gemacht?
Kürzlich war ich im «Rutz», das hat mir sehr gut geschmeckt. Aber der absolute Knaller ist die Ente auf Peking-Art, die Philipp Vogel im «The Orania» in Kreuzberg serviert. Ich war schon mehrfach da, weil das wirklich spektakulär ist. Die Ente wird in vier Gängen serviert, es gibt die Brust, die gezupften Keulen, die Haut, Dumplings und eine umwerfende Enten-Consommé.

Reto Brändli Christian Hoffmann

«Ich mag die Atmosphäre kreativer Freiheit»: Reto Brändli mit Sous-Chef Christian Hoffmann.

Gibt es ein Gericht, das Sie in Ihrer Küche gerade beschäftigt?
Zurzeit plane ich das Frühlingsmenü: Es wird Saibling, Seezunge, Lamm und bretonischen Hummer geben – und natürlich Wachteln. Ich freue mich darauf, Foie Gras mit Waldmeister zu kombinieren, das Kraut gibt es in der Schweiz kaum. Mit Waldmeister habe ich kaum je gearbeitet, deshalb wird das ein spannender Versuch. 
 

Wie lange im Voraus planen Sie Ihre Menüs?
Ich starte den Prozess rund zwei Monate vorher. Oft geht es auch darum, die Zutaten zu organisieren. Es ist teilweise gar nicht so einfach, hier an wirklich gute Meeresprodukte zu kommen. Dann ist nicht jedes Gericht gleich herausfordernd: Manchmal gibt es technische Schwierigkeiten, manchmal tüftelt man an den geschmacklichen Komponenten. Die Seezunge zum Beispiel möchte ich mit Petersilie und Salzzitrone kombinieren, ohne dass die beiden Aromen dominieren. Da sind wir jetzt gerade daran, das richtige Verhältnis zu finden. 
 

Brändlis Freunde aus der Schweiz. Unter dem Titel «Lorenz Adlon & Friends» kocht Reto Brändli 2023 an drei Sonntagen zusammen mit Kollegen aus der Schweiz jeweils ein Four-Hands-Dinner in sechs Gängen: Zugesagt haben bereits Rolf Fliegauf am 25. Juni, Patrick Mahler am 17. September sowie Stefan Heilemann am 12. November. Am 23. April lädt Reto Brändli ausserdem zu einem Abend mit Carmelo Greco aus dem gleichnamigen Restaurant in Frankfurt.

>> Reto Brändli, 31, ist seit dem Frühling 2022 Küchenchef im «Lorenz Adlon Esszimmer» im Hotel Adlon Kempinski in Berlin. Davor hat er unter anderem im «Kempinski» St. Moritz, bei Rolf Fliegauf im «Ecco», bei Andreas Caminada auf Schloss Schauenstein und bei Benoît Violier im Hôtel de Ville in Crissier gekocht. GaultMillau hat Brändli als «Schweizer Star im Ausland 2023» ausgezeichnet. 
 

Fotos: Maria Schiffer, HO