Daniel Humm, beginnen wir mit einer ganz simplen Frage: Wie geht es Ihnen?
(Lacht.) Es ging mir schon lange nicht mehr so gut. Das Restaurant Eleven Madison Park existiert jetzt seit 27 Jahren, seit 20 Jahren bin ich dabei und habe erstmals das Gefühl, dass es vollständig ist im Sinne eines Gesamtkunstwerks. Es macht mich stolz, dass ich so viel Zeit in diesem Restaurant verbracht habe und immer noch grosse Freude daran habe. Das EMP ist wichtiger denn je, und ich glaube, das lässt sich nach so langer Zeit nicht über viele Restaurants sagen.
Was heisst das für Sie?
Es ist eine Metapher für das Leben: Wenn man sich in eine Sache vertieft, kommt mehr dabei heraus. Ich muss nicht hundert Restaurants aufmachen und überall dabei sein. Bei einer Sache zu bleiben, kann sehr bereichernd sein.
Und Sie wollen bei dieser einen Sache bleiben?
Wir haben fast täglich ein Angebot auf dem Tisch, irgendwo ein Restaurant aufzumachen. Ich bin sehr vorsichtig damit. Wir sind, wie man auf Englisch sagt, «human beings» und nicht «human doings». Meine Kraft geht heute ins «being». Nur ein Restaurant zu haben, bedeutet mehr «being». Wir planen zwar ein neues Projekt, aber das ist noch eineinhalb Jahre entfernt.
Inwiefern hat sich denn Ihre Lebens- und Arbeitssituation im Vergleich zu früheren Jahren verändert?
Ich bin hier angekommen, New York ist mein Zuhause, ich fühle mich als New Yorker. Wenn man jung ist und am Anfang der Karriere steht, muss man alles machen, was sich als Gelegenheit bietet. Da ist es nicht angebracht, zu sein. Es ist wichtig, Kontakte zu knüpfen, jede Möglichkeit zu prüfen, zu reisen, zu machen und zu tun. Das habe ich auch alles gemacht.
Und das hat Sie auch beinahe zerstört.
Ja, total, aber es hat auch funktioniert. Heute kommt das bessere Resultat heraus, wenn ich es langsamer angehe.
Sie haben eben die Clemente Bar und das Clemente Studio – einen Counter mit Soba-Nudeln als Hauptthema – eröffnet. Wenn ich richtig zähle, besteht das Eleven Madison Park jetzt aus vier Restaurants?
Ja, das stimmt eigentlich. Ich finde es spannend, dass das Eleven Madison Park wie eine Welt ist, in der man immer noch etwas entdecken kann. Es zeigt auch verschiedene Seiten meiner Persönlichkeit und geht nicht nur um Fine Dining.
Die pflanzenbasierte Küche, die Sie mit Ihrem Team seit 2021 entwickeln, gibt es jetzt plötzlich in verschiedenen Disziplinen, zum Beispiel als Bar Food.
Und was spannend ist, dass es in der Clemente Bar überhaupt kein Thema ist, ob es jetzt Fleisch gibt oder nicht. Die Leute kommen einfach, weil es eine coole Bar ist. Kürzlich hat ein Freund beim Hinausgehen gesagt, er habe gar nicht realisiert, dass der Burger mit einem frittierten Maitake-Pilz und nicht mit Fleisch gefüllt war.
Die Bar haben Sie mit dem Künstler Francesco Clemente gestaltet, der zwischen New York und Rom pendelt und früher mit Andy Warhol oder Jean-Michel Basquiat zusammengearbeitet hat. Wie entsteht eine solche Kooperation?
Die Basis ist eine sehr tiefe Freundschaft, zwischen Franceso und mir. Wir reisen oder verbringen Feiertage zusammen und telefonieren fast täglich. Einmal kamen wir darauf, dass nach dem italienischen Renaissance-Künstler Giovanni Bellini ein berühmter Drink benannt ist. Und Francesco fand, er sollte eines Tages auch einen eigenen Drink haben. Daraus entstand dann viel mehr: Plötzlich ging es um ein Bild, dann um viele Bilder und schliesslich wurde eine ganze Bar daraus. Das ist eine der schönsten Kollaborationen, die ich bisher erlebt habe. Neben Franceso waren auch der Lichtkünstler Carsten Höller, Möbel-Designer Brett Robinson und der Architekt Brad Cloepfil beteiligt. Dazu natürlich unsere Cocktail-Spezialisten und Köche – alle haben sich gegenseitig inspiriert, das Beste einzubringen. Es ist eine kleine Bar, es ging nie um Geld und wird dabei nie um Geld gehen. Es ist ein Liebhaberobjekt, das aus Freundschaften zwischen kreativen Leuten entstanden ist.
Die Kunst hat Sie in Ihrer Arbeit stark beeinflusst, viele Künstler zählen zu Ihren Freunden. Was passiert an dieser Schnittstelle zwischen Kunst und Kulinarik?
Kunst ist schon das, was mich am meisten inspiriert. Zuerst hat es sich vor allem auf den Teller ausgewirkt, jetzt beeinflusst es mein ganzes Ökosystem. Ich bin ein Koch, der mit Gefühlen kocht und kreiert. Es gibt Köche, die technisch viel begabter sind als ich oder viel mehr über Produkte wissen. Ich habe hingegen ein Gefühl im Kopf, das ein Gericht vermitteln soll.
Welches Gefühl soll in der Clemente Bar entstehen?
Die einzige Vorgabe, die ich allen Beteiligten gegeben habe, war, dass die Clemente Bar ein Ort der Fröhlichkeit und auch des Humors sein soll. Normalerweise kann man Kunst dieser Qualität nur im Museum sehen, wo die Bilder gut bewacht sind oder hinter Glas hängen. Hier kommt man ihr so nahe, dass man mit dem Kopf an sie anlehnen kann.
Welche Rolle spielt Kunst im Gesamterlebnis Eleven Madison Park?
Mir geht es darum, ein sehr persönliches Erlebnis zu schaffen. Als würde ich jemanden zu mir einladen, auch wenn das Restaurant natürlich nicht so aussieht wie mein Zuhause. Selbst wenn man die Kunst nicht einmal bemerkt oder nicht versteht, bleibt das Gefühl eines Ortes mit Seele. Mein Ziel war immer, dass ein Gast schon in den ersten Minuten, noch bevor er etwas gegessen oder getrunken hat, weiss, dass er in einem der besten Restaurants der Welt ist.
Wie wichtig ist dabei das Essen?
Wenn das Essen serviert wird, soll dieses Gefühl verstärkt werden. Man soll sich damit noch besser fühlen, noch bessere Gespräche führen, und man soll sich erinnern können. Vielleicht weiss man später nicht mehr genau, was man gegessen hat. Aber man erinnert sich an die Stimmung in diesem Moment.
Den handwerklichen Teil in der Küche decken längst andere Leute ab, was ist heute Ihre Rolle in diesem Restaurant?
Ich sehe mich als Chefredaktor oder Creative Director. Es geht in unserem Business viel um die Leute, um Betriebskultur und Organisation. Wir machen alles auf hohem Niveau, Kreativität und Gestaltung sind sehr wichtig. Und für diesen kreativen Spirit bin ich verantwortlich.
2021 haben Sie die Rezepte eines ganzen Berufslebens gewissermassen verbrannt, um nochmals vorne anzufangen. Wenn Sie gewusst hätten, was es bedeutet: Wären Sie dieses Wagnis trotzdem eingegangen?
Ich habe oft gedacht, «wieso hast du das eigentlich gemacht?». Wir mussten schon sehr tiefgreifende Veränderungen vornehmen. Es war viel Arbeit, wir wurden hart kritisiert. Wenn ich gewusst hätte, wie schwierig es sein würde, hätte ich es wahrscheinlich nicht gemacht. Aber es gab kein Zurück mehr. Heute bin ich extrem stolz, dass wir es gemacht haben. Unser Essen, unser Wissen hat sich unglaublich stark verändert und erweitert.
Wie genau?
Davor war Eleven Madison Park ein Fine-Dining-Restaurant, das gewisse Dinge sehr gut gemacht hat. Aber es hat die Welt nicht durch Innovation verändert. Heute hingegen gibt es kein Restaurant auf der Welt, das so ist. Mich haben auch in der Kunst immer diese Phasen fasziniert, wenn etwas grundlegend Neues entsteht. Das haben wir aus meiner Sicht geschafft. Wir haben gezeigt, dass ein Restaurant auf höchstem Luxus-Niveau mit drei Michelin-Sternen keine tierischen Produkte verwenden muss.
Zu Beginn der Umstellung auf vegane Küche waren die Kritiken teilweise verheerend, die New York Times schrieb 2021: «Daniel Humm's acclaimed restaurant does strange things to vegetables.» Wie werden Sie heute wahrgenommen?
Die Reaktionen am Anfang habe ich teilweise nicht verstanden. Mir ging es darum, kreativ etwas Neues zu machen. Viele Leute in der Gastronomie haben es als Angriff aufgefasst, dass wir auf Dinge verzichten. Die Gäste waren hingegen offener als das Establishment. Wir hätten es vielleicht einfach machen sollen, ohne gross darüber zu reden. Aber dann hätten die Leute auch reklamiert. Die lauteste Kritik kam übrigens von Leuten, die gar nie gar nie bei uns waren.
Aber wenn man eine Idee lange genug durchzieht, setzt sie sich irgendwann durch, oder wie sehen Sie das?
Wenn die Idee ehrlich gemeint ist, und wenn das Produkt gut ist, dann setzt sie sich durch.
Ist der Zuspruch der Gäste heute besser als noch vor drei Jahren?
Die negative Presse hat uns schon sehr geschadet. Das war nicht gut fürs Geschäft. Aber es war auch emotional schwierig, so kritisiert zu werden. Heute ist es schwer, einen Tisch zu bekommen.
Welchen Stellenwert hat das Restaurant in dieser Stadt?
In New York ist es eine Institution, aber durch den Wandel hat es nochmals eine andere Bedeutung herhalten. Früher war das Eleven Madison einfach ein teures Restaurant, wo reiche Leute gegessen haben. Heute steht es für etwas.
Sie haben zu Beginn gesagt, es gehe mehr ums Sein als ums Machen. Trotzdem: What’s next?
Das Eleven Madison Park ist wie Haute Cuture, man kann das nicht täglich anziehen. Aber was auf dem Runway gezeigt wird, hat einen starken Einfluss. Im EMP loten wir die Möglichkeiten einer pflanzenbasierten Küche bis zum Extrem aus. Ich sage nicht, dass die Zukunft nur vegan sein muss. Es wird wohl einen Mittelweg geben. Das will ich als nächstes in die Diskussion einbringen, wie dieser Weg aussehen kann: Austern beispielsweise sind gut für die Umwelt. Ich bin aber überzeugt, dass mit Gemüse zu kochen keine Modeerscheinung ist. Das wird bleiben, weil uns einfach die Ressourcen ausgehen.
Welche Erkenntnis hat Sie in den drei Jahren Auseinandersetzung mit veganer Küche am meisten überrascht?
Das traditionelle Fine Dining empfinde ich mittlerweile als sehr limitierend. Wir haben früher eigentlich vor allem Würzzutaten zu Ente oder zu Fisch gekocht: Ente mit Zwiebeln, Ente mit Orange, Foie Gras mit Pflaume, Foie Gras mit Apfel… Und wir haben uns selbst auf die europäische Küche limitiert und nicht die ganze Welt und andere Kulturen im Auge gehabt, die teilweise viel älter sind als die französische Küche. Am Anfang hatte ich die Befürchtung, dass wir viele Sachen weglassen und uns dadurch einschränken. Aber das Gegenteil wurde wahr: Das Kochen ist heute viel freier, viel bereichernder. Ein Hauptgang kann heute aus 3000 verschiedenen Sachen sein, früher waren es vielleicht fünf.
Zum Schluss noch: Die UNESCO hat Sie kürzlich zum «Goodwill Ambassador for Food Education» ernannt. Welche Aufgaben erwarten Sie da?
Die UNESCO kümmert sich neben dem Weltkulturerbe auch um die über 700 Biosphären-Reservate in der Welt. In diesen geschützten Gebieten leben Mensch und Natur in Harmonie, und sie haben deshalb Vorbildcharakter. Meine Aufgabe ist es, dafür mehr Bewusstsein zu schaffen und mit Bildungseinrichtungen zusammenzuarbeiten.
Wie gehen Sie das an?
Das Engagement hat eben erst begonnen, aber die Rolle erlaubt mir, mehr Leute zu erreichen – auch ausserhalb des Restaurants. Mir gefällt dabei, dass ich viel Neues sehe und lerne. Ich habe immer daran geglaubt, dass auch ein kleines Restaurant die Welt verändern kann. Deshalb ist eine solche Aufgabe auch wichtig für mich.
>> Der Schweizer Daniel Humm (geb. 1976) ist Besitzer des Eleven Madison Park (EMP) in New York. Seit 2021 wird dort konsequent ohne tierische Produkte gekocht, und es ist gleichzeitig das erste vegane Restaurant mit drei «Michelin»-Sternen überhaupt. Vom GaultMillau erhielt Humm 2002 die Auszeichnung «Entdeckung des Jahres» in der Schweiz. 2003 wanderte er in die USA aus, 2017 wurde das EMP zur Nummer eins der «World's best Restaurants» gewählt.
Fotos: Yè Fan, Jason Varney, Evan Sung, HO