Fotos: Lukas Lienhard
Suppe statt Champagner. Für einmal lassen die Gäste die Mäntel beim Betreten des «Memories» in Bad Ragaz noch an. Für einmal gibt es als erstes auch keinen Champagner, sondern eine schlichte Ribelisuppe. Basierend auf einer klassischen Hühnerbouillon ist sie eine Kindheitserinnerung von Starchef Sven Wassmer: «Meine Grossmutter hat die schon so gemacht.» Um Erinnerungen soll es an diesem Abend, der draussen vor dem 18-Punkterestaurant am lodernden Feuer beginnt, schliesslich gehen. Im Hintergrund wird eine Harfe gezupft, und Svens Frau und Sommelière Amanda Wassmer stellt den speziellen Gast dieses Events vor: Atom Sarkar, Neurologie-Professor und Chirurg aus New York. «Hopefully we can create some new memories together this evening», begrüsst Amanda die Gäste. Grosses Bild oben: Atom Sarkar & Sven Wassmer (v.l.).
Starchefs sollen Erinnerungen schaffen. Was macht ein Doktor, der sonst in den USA an menschlichen Hirnen forscht und operiert, in einem Gourmetrestaurant in Bad Ragaz? Sobald alle Gäste am Tisch sitzen, liefert Atom Sarkar erste Antworten. Er legt dar, dass nur die Erinnerung uns zu Persönlichkeiten macht. Und, jetzt wird seine Motivation klarer, dass es heutzutage das hehre Ziel eines Starchefs sein müsse, solche Erinnerungen zu schaffen. Dafür kämen die Gäste ins Restaurant: «Nur um satt zu werden, geht man nicht ins Mugaritz, nicht zu Alain Passard.»
Darf nicht fehlen: der Bergsaibling. Sven Wassmer nimmt den Faden auf und serviert darauf einige seiner Gerichte, die absolut Erinnerungspotenzial haben: Zuerst raffiniertes Meerrettich-Mousse mit milimeterklein geschnittenem Randentatar, getoppt von einer Nocke Oona Alpenkaviar «Memories Edition». Ein paar Tropfen Dill-Öl in der Sauce perfektionieren diesen Gang, der äusserst leichtfüssig und zurückhaltend daherkommt. Es folgt der grösste Klassiker des Hauses: Bergsaibling aus dem Val Lumnezia mit karamellisiertem Sennenrahm und Tannenöl. Täuscht da das Gedächtnis oder schmeckt dieser Gang tatsächlich jedes Mal ein wenig anders?
Ein Big Mac, der das Leben verändert. Es ist eine ziemliche Zäsur, als Atom Sarkar im Folgenden über Big Macs spricht: Als regelmässiger Gast im Fastfoodlokal werde man sich am Lebensende wohl weder an den 3. noch an den 469. Burger erinnern – ausser die Mc-Donald’s-Filiale wird beim Besuch überfallen: «Dann wird Ihnen das Essen unvergesslich bleiben.» In der gehobenen Gastronomie, spannt Sarkar den Faden weiter, gehe es um dasselbe. Zentral sei die Frage, wie man ein aussergewöhnliches Erlebnis schafft, natürlich im positiven Sinne: «Im Idealfall sind Sie nach dem fünfstündigen Menü im Eleven Madison Park nicht mehr dieselbe Person wie zuvor.» Entscheidend sei letztendlich, ob ein Erlebnis die Sicht aufs Leben verändere. Sarkar formuliert es pointierter: «Ich erinnere mich nicht mehr an den siebten Geburtstag meiner drei Kinder – aber an deren Geburt noch ganz genau.»
Raclette & butterzartes Kuhfilet. Sven Wassmer, selbst Vater von zwei Kids, bereitet währenddessen den nächsten Gang zu: Seine Version von «Raclette»! Dieses Gericht ist schon ein paar Jahre älter und nach seiner Zeit in England entstanden, weil er dort das Käsegericht so vermisst habe. Die Kreation besteht aus Bergkartoffeln, cremigem Käsewasser aus Bergsbrinz und Gruyère, ein paar Tupfern Trüffelpüree und, das dann schon, viel gehobeltem weissen Trüffel. Und weil der Starchef genau weiss, dass die Gäste diesen edlen Pilz so sehr mögen, gibt es ihn nochmals beim Hauptgang. Er kommt aufs Kartoffelpüree, das ein perfekt auf den Punkt grilliertes, butterzartes Filet von der alten Milchkuh begleitet. Lieferant des Fleischs ist die Hinterhofmetzgerei von Michael Vogt. Und dritte Komponente auf dem Teller – wer kann sich mehr schon merken? – ein sagenhaft viskoser, tiefgründiger Kalbsjus.
Wertvoll: die Aufmerksamkeit des Gastes. Atom Sarkar beantwortet indes die Frage, ob es denn tatsächlich in der Hand eines Kochs liege, ob sich ein Abend beim Gast ins Gedächtnis brennt. Keinesfalls, findet der Neurologe im lustigen Pullover: Wenn der Gast sich nicht aufs Erlebnis einlasse, sei jede Liebesmüh des Chefs vergebens. Nicht umsonst sei heutzutage das höchste Gut – man sieht dies auch bei «Google», «Instagram» und Co. – die Aufmerksamkeit! Sarkar ist darum, sagt er an einem der Tische, kein grosser Freund davon, jedes Gericht mit dem Handy zu fotografieren. Wer die Motive einfach «abhake», habe davon noch lange keine prägnanten Erinnerungen geschaffen.
Das bleibt haften: Klebrige Finger beim Dessert! Natürlich sehen auch Sven Wassmers letzte Gänge fotogen aus, sie werden fotografiert. Unvergesslich sind sie aber aus anderen Gründen: Beim Ziegenfrischkäse von Toni Odermatt mit Aprikosen-Boshi ist es der Fakt, dass man die Kreation mit einem Brot auftunkt, das zuvor mit Knoblauch-Honig bepinselt wurde – so klebrige Finger wie nach diesem Käsegang hatte man seit Kindheit nur noch selten! Beim folgenden Dessert mit Sauerklee, Sauerjoghurtcreme und Holunder-Espuma sticht das beinahe kitschige Aroma von Wald heraus, unter anderem evoziert von Arvenöl. Doch, da haben der Starchef und der Hirn-Professor bei den Gästen schon ein paar Erinnerungen eingepflanzt. Und ein paar Gedankengänge, die man weiterspinnen kann.