Text: David Schnapp | Fotos: Filip Zuan
Mentale Herausforderung. Punkt 13 Uhr stehe ich am zweiten Tag meines Einsatzes als Hilfskoch bei Mitja Birlo am St. Moritz Gorumet Festival wieder in der Küche (Bild oben). Das klingt erstmal nach einem entspannten Arbeitseinsatz, aber Schluss wird heute erst kurz vor Mitternacht sein, das macht diese Tätigkeit körperlich und mental herausfordernd. Wir Journalisten sitzen ja die meiste Zeit am Schreibtisch, die Gedanken kreisen um passende Adjektive, Formulierungen, Sätze. Nun muss ich rund drei Dutzend gelbe und orangefarbene Karotten sowie Petersilienwurzeln erst auf der Aufschnittmaschine in Scheiben hobeln und dann in Rauten von etwa fünf Millimetern Kantenlänge schneiden. Zusammen mit Federkohl und der Limetten-Vinaigrette, für die ich ebenfalls zuständig bin (siehe Tagebucheintrag von gestern) wird daraus der Beilagen-Salat für den Hauptgang (geschmorte, glasierte Iberico-Backe mit Dörraprikosen und Federkohl).
Hirn und Wurzelgemüse. Während ich vor meinem grünen Brett stehe und lange Karotten-Rechtecke begradige, halbiere und dann in Rauten-Form bringe, stelle ich fest, dass mein Kopf für diese Art von Arbeit wenig trainiert ist. Bis die Impulse aus dem Kopf in der Hand mit dem Messer angekommen sind, dauert es viel zu lange. In der Zeit, in der ich etwa ein Drittel des Wurzelgemüses in Form bringe, schneidet der Kollege Julian Weiler, der Sous-Chef im «Silver», die andern zwei Drittel. Am Ende habe ich trotzdem mehrere Stunden mit diesen Karotten und Petersilienwurzeln verbracht und mir kommt ein Artikel in den Sinn, den ich kürzlich gelesen habe. Es ging darum, dass wir an einem kollektiven Aufmerksamkeitsdefizit leiden, weil wir nur noch auf Bildschirme starren. Kochen ist so gesehen eine ganz gute Methode, die eigene Konzentration auf genau eine Sache zu lenken und ganz bei sich und dieser kleinen faszinierenden Welt der Küche zu sein.
Privilegierter Praktikant. Nicht nur der Kopf, auch Beine und Rücken sind in meinem Fall nicht ideal dafür ausgebildet, stundenlang an einer Edelstahl-Theke zu stehen. Dabei bin ich natürlich ein sehr privilegierter Praktikant. «Kronenhof»-Direktor Marc Eichenberger ist ein grosszügiger, umsichtiger Gastgeber. Ich schlafe in einem geräumigen Zimmer, und Eichenberger achtet darauf, dass «Team Silver» jederzeit gut verpflegt wird. Küchenchef Fabrizio Piantanida, der sich seit 2013 kulinarisch für den «Kronenhof» und das 16-Punkte-Restaurant «Kronenstübli» verantwortlich zeichnet, stellt Personal zur Unterstützung ab und hilft unkompliziert aus, wenn ein Gast etwas essen will, was wir nicht im Angebot haben.
Nerven und Adrenalin. Dass der Service für 36 Gäste am zweiten Einsatztag anspruchsvoller sein würde als am ersten Abend mit 16 Reservationen, war voraussehbar. Es wurde dann aber ein ziemlich nervenaufreibender Adrenalinhöhenflug. Mitja Birlo hat ein Menü geschrieben, das vorsieht, dass die Köche gewisse Gänge am Tisch präsentieren oder fertigstellen. Dass macht die Aufgabe nicht einfacher, während meine Kollegen oben bei den Gästen sind, fehlen sie unten beim Anrichten. Dazu kommen eine Reihe von Allergien und der dringende Wunsch nach einem veganen Menü, das wir so kurzfristig nicht zubereiten können. So gewinnt der Abend mit zunehmender Dauer an Intensität.
«Salatposten.» Aber dieser Endorphinrausch ist wohl auch einer der vielen Faktoren, die Kochen auf höchstem Niveau so aussergewöhnlich machen. «Wir schicken erst vier Salate, dann zwei Steinbutt und danach drei Backen», ruft Mitja Birlo, mein Chef auf Zeit. Das heisst für mich auf meinem «Salatposten», dass der angebratene, mit Petersilienöl komprimierte Lattich, auf den ich zuvor in sorgfältiger Pinzetten-Arbeit aus Punkten von Sanddorn-Gel, Radicchio, Petersilie, Dill, Kerbel, Sauerampfer und Estragon einen kleinen Garten gebaut habe, nun mit Salatpulver bestreue und zuletzt getrocknete Enoki-Pilze auflege. Gleichzeitig wird von Kollege Ilias Tasioulas das Salatpüree gewärmt, während ich wiederum die Sauce – genau 35 Gramm ¬– in einem kleinen Pfännchen wärme und zuletzt etwas Petersilienöl dazugebe.
Wie in Trance. Es ist jedes Mal für mich wieder ein kleines Wunder der Koordination und Synchronisation, wenn ein Gang angerichtet wird, wenn drei, vier Leute gemeinsam an einer kleinen Sache arbeiten, die in genau diesem Moment zur wichtigsten Sache der Welt wird. Gleichzeitig darf ich aber den Steinbutt nicht vergessen, der möglichst schnell die Küche verlassen soll, die Gäste lassen wir ungern warten. Während dem Service ist es von Vorteil, im Kopf schon zwei, drei Schritte voraus zu sein. Beim Fisch bin ich für die Beilage zuständig. Dünne Rettichbahnen werden mit einer Shiso-Creme bestrichen, mit Buchweizen, gezupftem Shiso, getrockneten Blüten und Dill dekoriert und dann zu organischen «Wellen» gefaltet. Und die Sauce für den Hauptgang – 15 Gramm pro Portion – sollte auch noch abgewogen werden. Wie in Trance wechsle ich vom Salat, zum Rettich, zur Sauce, wieder zurück und verliere jedes Gefühl für die Zeit.
Sand im Getriebe. Je länger der Abend dauert, desto anfälliger wird unser gut organisiertes System, an einem Tisch wird der Hauptgang kurzfristig abbestellt, und bei der Neuner-Gruppe fehlen zwei Personen, sie kommen später nach. Für die Hochleistungsmaschine einer Spitzenküche bedeutet jeder Zwischenfall dieser Art Sand im Getriebe. Zum Stillstand kommt sie hier deswegen nie, aber sie auf hoher Tourenzahl am Laufen zu halten, braucht Improvisationstalent, Flexibilität und einen wachen Geist. Um 23.30 Uhr geht der «schlimmste Abend seit langem» zu Ende, wie es Mitja Birlo ausdrückt. Aber, unser Team-Spirit ist intakt und hervorragend – oder, wie wir im «Team Silver» gerne sagen: «Wie geil ist das denn!»
>> Während der 28. Ausgabe des Gourmet Festival St. Moritz kocht Channel-Autor David Schnapp im Team von Koch des Jahres Mitja Birlo im «Kronenhof», Pontresina und berichtet hier über seine Erfahrungen. Der nächste und letzte Tagebucheintrag handelt vom Geheimnis eines guten Teamgeists und den kleinen Momenten der Heiterkeit in der Küche.