Interview: David Schnapp
Tim Raue, gab es einen Moment in Ihrem Leben, wo Sie angefangen haben, sich selbst zu mögen?
Ja, aber das ist gar nicht so lange her (lacht).
Meine Annahme war, dass die Ablehnung der eigenen Eltern, die Sie erfahren haben, es erschwert, mit sich im Reinen zu sein.
Es ist ein Prozess, der Jahrzehnte dauert. Bei der Arbeit habe ich schnell gelernt, mich vom Applaus loszukoppeln. Und irgendwann habe ich es auch im Zwischenmenschlichen geschafft, nicht abhängig zu sein vom Zuspruch anderer.
Was gab den Ausschlag?
Mit der Trennung von meiner damaligen Ehefrau und Geschäftspartnerin Marie-Anne vor einigen Jahren brach eine Säule in meinem privaten Leben weg, was mich grundsätzlich fragen liess: Warum bin ich überhaupt hier? Was ist mein Nutzen, muss ich überhaupt weiterleben? Ich wollte ja schon immer nach Asien und dachte, ich breche hier ab und gehe.
Sie hätten alles hinter sich gelassen?
Ein grosses Thema bei mir ist, dass mir nicht bewusst ist, was ich eigentlich geschafft habe. Ich lebe wirklich im Hier und Jetzt. Ich stehe nicht morgens auf und schaue mir selbstgefällig meine Auszeichnungen an. Es stehen zwar einige im Büro, aber zu Hause ist nichts davon zu sehen, und ich vergegenwärtige mir das gar nicht.
Warum sind Sie am Ende trotzdem nicht nach Asien ausgewandert?
Ich rief meinen besten Freund an und wollte mit ihm am Abend noch etwas trinken, um dann zu packen und abzureisen. Er rückte mich zurecht und rief mir in Erinnerung, was ich alles zu verlieren hatte. Daraufhin musste ich erst mal über mich selbst nachdenken: Wer bin ich? Was bin ich? Wie sehen mich die anderen? Interessiert mich das? Liebe ich mich überhaupt? Weiss ich eigentlich, was ich will? Was, wenn ich wüsste, was ich wollte? Und wie will ich das erreichen? Das hat mich in eine tiefe Depression gestürzt. Ich war drei, vier Monate lang in absoluter Dunkelheit, stieg ab in die tiefsten Täler meiner Psyche.
Wohin führte Sie dieser Abstieg?
Zu vielen Ereignissen meiner Kindheit. Ich rief glücklicherweise früh genug meine Therapeutin an und sagte: «Ich brauche jetzt wirklich Hilfe.» Ich schuf drei Monate lang kein einziges Gericht. Wenn mir jemand was hinstellte, schmeckte es mir nicht, nichts davon bedeutete mir etwas. Mein kreatives Leben war auf null gestellt. Ich hatte solche Situationen schon öfter im Leben und konnte mich dann immer auf meinen Dynamo verlassen.
Der Dynamo, der einem durch die eigene Kraft Licht spendet?
Mein Dynamo gab kein Licht mehr. Dann habe ich halt an mir gearbeitet, bis wieder Licht ins Dunkel gekommen ist. Ich habe mir klargemacht, was ich in meinem Leben möchte. Und am Ende konnte ich wirklich anfangen, mich selbst zu mögen. Die Kleider, die ich trage, sind beispielsweise wie eine Umarmung; ich haben einen Hang zu zarten, weichen Stoffen.
Und wo stehen Sie heute?
In den vergangenen sieben Jahren bin ich durch die Aufarbeitung meiner Kindheit und Jugend ein viel glücklicher Mensch geworden und konnte das, was ich für mich getan habe, auch auf meine Umwelt abstrahlen. Ich habe gelernt, in gewissem Mass mit mir selbst zufrieden zu sein, mir mal kurz selber auf die Schulter zu klopfen. Nie länger als fünf Sekunden. Dann habe ich wieder Angst, dass ich faul werde.
Gibt es für diese Angst einen Anlass?
Das war eine wichtige Erkenntnis: dass diese pedantischen Strukturen, die Tendenz, alles durchzutakten, für jemanden, der keine Wurzeln hat, das ist, woran er sich festhalten kann. Mein Terminkalender gab mir Sicherheit.
Nachdem Sie diese Phase der Erkenntnis
durchlaufen haben: Was ist Ihnen wichtig im Leben?
Das Elementarste ist meine Freiheit. Es gibt nichts und niemanden, das oder der mir sagt, was ich zu tun oder zu lassen habe. Ich treffe all meine Entscheidungen selbst. Ich bin Herr über meinen Terminkalender. Ich entscheide, was ich mache. Und ich halte mich für einen facettenreichen Menschen. Was auch bedeutet, dass ich sehr klar unterscheide, wem ich was von mir zeigen möchte, wen ich in welchen Bereich meines Lebens lasse.
Sie gelten als einer der besten Köche in Deutschland. Was bedeutet Ihnen das?
Ich wusste sehr früh, dass ich anders bin als die anderen: intensiver, lauter, provokanter. Für mich sind Sterne, Punkte und dergleichen nichts anderes als Kanäle, die mir Gäste bringen. Die ultimative Auszeichnung ist für mich die Nennung auf der Liste «The World’s 50 Best Restaurants». Denn das ist ein Zeichen dafür, dass es mir gelungen ist, mit viel Leidenschaft und Leiden etwas zu schaffen, was einzigartig ist. Ob es das Beste ist oder zu den Besten gehört, entscheiden andere. Aber ich habe etwas, das auf der Welt irgendwie heraussticht.
Wenn man Ihre Biografie liest, scheint Ihr Berufsleben ein rastloser Kampf zu sein. Wie stark sind Sie von der Angst getrieben, Sie könnten irgendwann wieder in Armut zurückfallen?
Jeden Tag, jede Sekunde. Ich bin ein Überlebender. Ich habe Dinge überlebt, vor denen ich heute einfach wegrennen würde. Auch die Armut war schlimm. Ich habe gestern mit meinem Vermieter telefoniert und ihm gesagt, dass ich mir in meiner Wohnung den Arsch abfriere. Er meinte, er könnte die Heizung nicht einschalten, weil der Gasvertrag gekündigt worden sei. In eine Wohnung zu kommen, die nicht mehr als 13 Grad hat, ist für mich das allerschlimmste Flashback überhaupt.
«Ich weiss, was Hunger ist», lautet der Titel Ihrer Biografie. Welche Art von Hunger ist gemeint: der nach Essen, nach Wärme, nach Zuneigung, nach Anerkennung?
Es ist alles. Das eine bedingt das andere. Aber dieses extreme Hungergefühl, wenn dir schlecht wird vor Hunger, das ist sehr schwer auszuhalten. Am ersten Tag ist es grausam, am zweiten geht es dann besser.
Sie wuchsen teilweise bei Ihrem beruflich erfolgreichen Vater auf. Wie kamen Sie dennoch in eine Situation des Hungerns?
Ich verbrachte den Grossteil meiner Teenagerjahre bei meiner Mutter in Berlin, die leider nicht in der Lage war, für mich, geschweige denn für sich selber, zu sorgen. Es kam vor, dass sie zwei, drei Tage lang nicht auftauchte und dass ich ohne Geld und ohne irgendwas alleine zurückblieb.
Und dann landeten Sie bei den türkischen Street-Gang der 36 Boys …
Ich suchte eine Gemeinschaft. Aber noch wichtiger war, dass ich in dem Alter anfing, mein eigenes Geld zu verdienen. Selbst als Koch arbeitete ich später nebenbei in einem Kleiderladen, um meine damalige Freundin Marie-Anne und mich durchzubringen.
Arbeit war Ihr Ausweg aus der Misere?
Ja, aber ich glaube nicht, dass ich der Ehrgeizigste bin, sondern ich bin einfach fleissig. Ich war auch nicht der Talentierteste in irgendwas, aber ich war schon immer jemand, der es zum Beispiel geschafft hat, gute Mitarbeiter zu halten. Ich bin ein guter Organisator, der aus den Ideen und der Kreativität eines Kollektivs etwas schaffen kann. So bin ich viel besser, wenn man mir einen fertigen Teller hinstellt, den ich nach meinem Dafürhalten perfektionieren kann, als wenn ich etwas komplett Neues erschaffen soll.
Sie sind wie Ronaldo, der nach dem Training noch mal 100 Freistösse übt.
Das ist das, was ich gemacht habe: Nach 14 oder 15 Stunden Arbeit in der Küche setzte ich mich zu Hause vor den Fernseher, um Schnitttechniken zu üben, weil ich darin nicht so gut war wie andere. Das übte ich mit Karotten, Knollensellerie oder Zucchini drei, vier Monate lang, bis ich blind perfekte Brunoise oder Rauten schneiden konnte.
Was ist Ihre herausragende Stärke?
Es ist dieser unbändige Wille, den ich habe. Und ich gebe nicht auf. Viele Menschen verstehen etwas sehr schnell. Ich verstehe es oftmals nicht so schnell. Aber wenn ich die Zusammenhänge einmal durchdrungen habe, dann bin ich nicht mehr aufzuhalten.
Sie sind ein ausgezeichneter Kommunikator. Wie sind Sie überhaupt in die Lage gekommen, Probleme auf der Strasse mit Gewalt statt mit Reden zu lösen?
Da, wo ich herkam, war Reden keine Lösung. Mit wem hätte ich denn reden sollen? Ich löste Probleme mit Gewalt, weil ich nicht auf die Ebene des Gesprächs kommen konnte. Das war aber nur eine kurze Phase, die mit dem Beginn meiner Ausbildung zu Ende war. Ab dann konnte ich meine Aggression in Arbeit ummünzen.
Die Strassenmentalität konnten Sie einfach so ablegen?
Ich wurde ja mit Anfang 20 Küchenchef und hatte dann etwas zu verlieren. Aber, was geblieben ist: Ich kann Gewalt bis heute spüren. Während meine Frau unbedacht irgendwo entlanggeht, merke ich 100 Meter vorher, wenn Ärger droht, und wir wechseln die Strassenseite. Trotzdem gehe ich Konflikten nicht aus dem Weg, ich lasse mich nicht beleidigen, da ist dann irgendwann Feierabend.
Wenn man die Gerichte eines Kochs als Ausdruck seiner Persönlichkeit liest, geht es bei Ihnen nie um völlige Harmonie, Ihre Teller haben Ecken und Kanten, sind süss, sauer, scharf und salzig.
Und totale Harmonie wird es nie sein. Ich habe zwar mittlerweile schon Gerichte gegessen, deren vollkommene Harmonie ich schön fand. Aber am meisten Spass habe ich, wenn mich etwas animiert – wie in der thailändischen oder chinesischen Küche. Ich merke aber auch, dass ich mich verändert habe, und dass meine Gerichte feiner geworden sind. Säure und Schärfe schiessen nicht mehr wie Raketen aus dem Teller. Das ist eine Entwicklung der vergangenen Jahre; ich bin mehr mit mir im Reinen, und so ist auch mein Essen. Meine Gerichte haben immer meine verletzlichste, meine sensibelste und menschlichste Facette gezeigt.
Würde das Essen im Restaurant Tim Raue noch besser, wenn Sie selber öfter in der Küche stünden?
Nein, nein, das wäre schlimmer. Weil ich immer derjenige bin, der die Aromenspitzen noch mal hochzieht. Ich kann gar nicht anders. Also nehme ich mich zurück. Als wir damals das Testosteron rausnahmen, kam der zweite Stern, und die Gästezufriedenheit stieg stark an. Ich habe grossartige Mitarbeiter um mich herum, viele arbeiten seit Jahren mit mir zusammen und sorgen für eine hohe Konstanz.
Sie sind im Mainstream angekommen?
Ja, vielleicht. Ich habe ja zwei Seiten: Ich bin der sensitive und elfenhafte Küchenchef, gleichzeitig bin ich Unternehmer mit neun Restaurants und Auftritten in vier Fernsehshows.
Muss das alles sein?
Das muss deswegen sein, weil ja nicht alles gleichzeitig läuft, sondern übers Jahr verteilt ist. Und ich habe auch weiterhin die Angst, abzustürzen und alles zu verlieren. Ich brauche nicht die zweite oder dritte teure Uhr. Was ich brauche, ist ultimative Freiheit. Das Ziel ist schon, so viel Geld zu verdienen, dass ich ein würdiges Leben im Alter führen kann. Ich hoffe, dass ich noch ein paar Jahre lang im Fernsehen gefragt bin. Das ist meine zweite Karriere, die jetzt gerade richtig startet.
Gestern Abend habe ich Sie beim Zappen im TV gesehen und heute Morgen als Erstes beim Verlassen des Hotels auf einem Plakat. Haben Sie keine Angst, man könnte irgendwann genug Raue gesehen haben?
Es gibt natürlich Menschen, die sich daran stören, das sind vor allem Journalisten, aber nicht unbedingt die Konsumenten. Ich habe Fernsehen erst jetzt richtig verstanden und lerne dabei ganz viel. Ich bin ja eigentlich ein unglaublich schüchterner Mensch.
Das ist schwer zu glauben.
Doch, die Domizile in Berlin, Graz und Sizilien sind meine letzten Schutzmauern. Das sind Orte, wohin auch Freunde oder Familie nicht kommen. Nur Shirley, der Hund, den ich in einer Patchworkfamilie mit meiner Ex-Frau Marie-Anne teile, darf da rein. Rauszugehen fällt mir schwer, denn dann geht es um Interaktion. Aber im Fernsehen geht es nicht ohne, man muss Türen öffnen. Das lässt mich extrem wachsen, weil es mir ganz viele Versagensängste nimmt.
Da Sie von Ihrem Hund sprechen: Dass Sie Werbung für
Hundefutter gemacht haben, kam nicht überall gleich gut an.
Das interessiert mich nicht. Unser Hund hat eine chronische Bauchspeicheldrüsenentzündung und kann keine fettigen Sachen essen. Als diese Anfrage kam, sah ich das als Möglichkeit. Wir haben ein Futter mit weniger als vier Prozent Fettanteil entwickelt – das funktioniert supergut, und alle sind happy damit.
Was würden Sie rückblickend nicht mehr machen?
Catering ist Stress ohne Ende. Da verdiene ich mein Geld lieber mit Fernsehen. Das ist zwar auch nicht ohne, weil Drehtage 12 bis 14 Stunden dauern, aber es ist sehr lehrreich.
War es eigentlich eine bewusste Entscheidung, einen Patchwork-Hund, aber keine eigenen Kinder zu haben?
Ich hatte nie das Bedürfnis, Kinder zu haben. Ich hatte auch immer Angst, ein schlechter Vater zu sein. Trotz all der Therapien und der persönlichen Entwicklung bin ich ein sehr fordernder Mensch.
Sie glauben, das wäre für einen Vater keine gute Ausgangslage?
Bei mir im Kopf laufen gerade die schlimmsten Momente meines Lebens ab. Es war ja nicht nur der Vater, der mich schlug, und die Mutter, die sich nicht kümmern konnte. Ich war einmal kurz vor dem Suizid, habe Schlägereien und Schiessereien erlebt, aus denen ich nur knapp rauskam. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte ein Kind und dem würde was passieren – ich wüsste nicht, wie ich damit umgehen sollte.
Wir haben eingangs über die Fähigkeit gesprochen, sich selbst zu mögen. Gibt es mit Ihrer Geschichte überhaupt irgendwann genug Anerkennung?
Man muss sich vor allem selber anerkennen. Es ist noch nicht so, dass ich auf Anerkennung verzichten kann, aber ich bin so weit, dass ich mich manchmal freuen kann.
Gibt es Momente, wo Ihre ganze Anspannung von Ihnen abfällt?
Ja, wenn ich mich sehr wohl fühle. Wenn ich bei einem Glas Wein Menschen um mich habe, die ich nicht als Bedrohung im Sinne von Konkurrenz sehe. Ich habe Momente, wo ich jegliche Abwehrmechanismen fallen lasse.
>> Das Interview mit Tim Raue in voller Länge jetzt im aktuellen GaultMillau Magazin.
>> «Kitchen Impossible – Weihnachts-Edition» mit Tim Raue, Tim Mälzer, Lucki Maurer und Max Strohe am Sonntag, den 11.12. um 20:15 Uhr bei VOX.
Fotos: Nico Schaerer, Nils Hasenau, MagentaTV / Katy Wagner, HO