Üppige Dekoration, bald ein Umbau. Wenn er aus der Küche kommt, schaut man zweimal hin. Ivan Baretti, gerade mal 35 Jahre jung und von lässiger Erscheinung, wirkt ein wenig fehl am Platze im rokoko-artigen Ambiente des Restaurants Toska in Genf. Überall Bilder, Fotos, Statuen, schwere Vorhänge, Deckenfresken und sogar ein Flügel… Der Blick wandert hin und her – und Baretti (Bild oben) kommentiert die charmante, etwas in die Jahre gekommene Einrichtung fast entschuldigend: «Diesen Frühling werden wir renovieren und das Restaurant ab Ostern bis zum 12. Mai schliessen.» Um sogleich anzufügen: «Das Flair der italienischen Renaissance wollen wir aber erhalten!» Wer sich näher auf den italienischen Küchenchef einlässt, merkt schnell, dass er trotz seines jugendlichen Alters ein Koch ist, dem die Klassik, auch am Herd, wichtig ist.

Ravioli del Plin mit Fasanenfüllung. 16 Punkte, ein Michelin-Stern, Mitglied bei den Grandes Tables de Suisse – die Auszeichnungen von Ivan Baretti, dem Chef des höchstbewerteten italienischen Restaurants Genfs, stehen ein wenig im Gegensatz zu seiner Zurückhaltung. Während andere mit solchem Status ihre Erfolge in den sozialen Medien möglichst breittreten, verbringt er seine Freizeit lieber daheim oder in den Bergen, auf Skiern oder auf dem Mountainbike. Sein Kochstil ist ebenso geerdet: Risotto alla Pescatora oder Ravioli del Plin mit Fasanenfüllung, das sind Klassiker südlich der Alpen. Baretti betont: «Es ist unmöglich, auf höchstem Niveau zu kochen, ohne die traditionellen Zubereitungen zu respektieren.» So lehnt er sich auch bei seinem offenen Raviolo mit kandiertem Kaninchen an ein bekanntes Gericht von Gualtiero Marchesi an, dem ersten italienischen Koch, der mit drei Sternen ausgezeichnet wurde.

Ivan Baretti Tosca asperges vertes pollen œuf fermier

Grüner Spargel, Wildblumen & Ei: Mit Passionsfrucht verleiht Ivan Baretti dem Gericht seinen Twist. 

Ivan Baretti Tosca raviolis aux girolles, jus au vin blanc, laitue de mer, carottes glacées

Ravioli mit Eierschwämmchen, glasierten Karotten, Weissweinjus & Meersalat.

Vorbild Yannick Alléno. Dass Ivan Baretti sich der Tradition verpflichtet fühlt, bedeutet nicht, dass sich sein Kochstil nicht weiterentwickelt: Seit er 2020 die Leitung der «Tosca»-Küche übernommen hat, wurde das Angebot im Restaurant merklich eleganter, merklich leichter. Baretti orientiert sich dabei an den ganz grossen des Fachs, etwa am französischen Drei-Sterne-Koch Yannick Alléno. Nach Barettis Auffassung hat dieser die klassischen Saucen revolutioniert, indem er sie weniger schwerfällig, weniger einreduziert auf den Teller gebracht, «und damit das Produkt, das als Basis verwendet wird, wieder in den Mittelpunkt gerückt hat.» (Lesen Sie hier mehr.) Also in etwa so, wie es ein Italiener eben auch machen würde.

Zweitrestaurnat Puccini: bodenständig. Dem Ruf des Genfer Restaurants hat die Entwicklung nicht geschadet. «Auch wenn ich, als damals bloss 30-jähriger Küchenchef, schon ziemlich unter Druck gestanden habe  – schliesslich wollten wir weder die Punkte noch den Stern verlieren», erinnert er sich. Verantwortlich habe er sich nicht zuletzt für die Brigade und das Servicepersonal gefühlt. «Heute sehe ich das ein wenig entspannter.» Wohl auch, weil zum Betrieb inzwischen auch das angrenzende «Puccini» gehört, wo er bodenständigere, günstigere Italo-Küche auftischt. 

Artischocke mit geschmolzenem Käse. Eines seiner derzeitigen Lieblingsgerichte im «Tosca»: Mammola-Artischocke nach römischer Art. Das gerüstete Gemüse wird in Weisswein und Zitronensaft gekocht und dann dekorativ wie eine Blume angerichtet. Den persönlichen Dreh verleiht Ivan Baretti diesem Antipasto, indem er in der Mitte geschmolzenen Pecorino platziert und eine sirupartig eingekochte Sauce dazu serviert. Gut möglich, dass ihm ein anderer Drei-Sterne-Koch für die Idee Pate gestanden hat: Enrico Crippa im italienischen Alba, der ausserordentlich gerne mit Gemüse und Pflanzen kocht (Lesen Sie hier mehr.). Typisch für Baretti ist hier jedenfalls, dass er ein klassisches Rezept als Grundlage nimmt, das er dann mit seinem persönlichen Touch modernisiert.

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Artischocke in Zitrone und Weisswein gekocht, mit geschmolzenem Käse im Zentrum.

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«Sous-bois»: Dessert aus Heidelbeer-Sorbet mit Chartreuse, dunkler Schokolade & Steinpilzen.

Ursprüngliche Gerichte, moderne Techniken. Klassische Zubereitungen in die gehobene Gastronomie zu transferieren – keine einfache Sache. Natürlich geht es immer um das Zusammenspiel der Aromen, um die Präzision bei den Kochtechniken – aber das Schwierigste ist es wohl, dem Geist des ursprünglichen Gerichts, das vielen Gästen in der Regel ja auch bekannt ist, gerecht zu werden. «Moderne Hilfsmittel und Techniken können natürlich dabei helfen, wenn sie richtig eingesetzt werden.» Beim erwähnten Kaninchen-Raviolo nach Marchesi heisst das etwa, dass das Fleisch schonend bei sehr niedriger Temperatur gegart wird, damit es möglichst aromatisch bleibt.

In der Trattoria der Grosseltern. Um der Tradition gerecht zu werden, verlässt sich der Maestro im «Tosca» auf seine Erinnerungen: Als Kind verbrachte er eine längere Zeit bei seinen Grosseltern. Sie waren Besitzer einer kleinen Trattoria in La Spezia, Ligurien. Er sei «zwischen Kochtöpfen und Pfannen aufgewachsen», habe vieles von seinen Vorfahren mitnehmen können: eine unerschütterliche Liebe zum Kochen und viel Leidenschaft für Italien, noch immer das Land, in dem das Produkt mehr verehrt wird als sonstwo: «Meine Grosseltern bauten ihr eigenes Gemüse an», so der Chef, «züchteten Tiere und buken ihr eigenes Brot. Alles war hausgemacht!»

Ivan Baretti Tosca

Das «Tosca» wird in diesem Frühjahr umgebaut.

Ivan Baretti Tosca

Ivan Baretti stützt sich auf seine Kindheitserinnerungen und sublimiert die Gerichte auf kulinarisch hohes Niveau.

Genf – für Gourmets strategisch gut gelegen. Und was kam danach? Nach der Hotelfachschule, ebenfalls in La Spezia, kam er das erste Mal nach Genf ins «Il Lago», verfeinerte sein Können danach in mehreren guten Restaurants zwischen Venedig und Mailand, machte einen Abstecher nach Spanien, bevor er erneut an den Genfersee kam. Er mag die Gegend, ist verliebt in die ganze Region, die Natur und in die strategisch gute Lage der Stadt, die es ihm ermöglicht, von hier aus problemlos die besten Restaurants Europas zu entdecken. «So wächst mein kulturelles Wissen», sagt er lächelnd.

«Wir überlassen nichts dem Zufall!» Ivan Baretti sieht sich mit dem «Tosca» noch lange nicht auf dem Höhepunkt angekommen. Er will noch mehr Punkte, einen weiteren Stern. Und er hat dafür die richtigen Ideen und Visionen. Auch sein Team scheint bereit zu sein. Jetzt muss er sich bloss noch Gedanken darüber machen, wie er sein Restaurant neu einrichten will: «Wir überlassen da nichts dem Zufall!» Und ist da so viel Hingabe dabei wie in der Küche, braucht man sich diesbezüglich keine Sorgen zu machen.

>> Aufgrund der Renovation bleibt das Tosca von Freitag, 18. April bis und mit 12. Mai geschlossen. 

www.tosca-geneva.ch

 

 

Fotos: Tosca Genf