Text: David Schnapp | Fotos: Gabriel Monnet
«Es heisst Lac Léman!» «Genfersee» sollte man hier nicht sagen, merkt der Besucher aus der Deutschschweiz sofort nach der unbedachten Benutzung des Wortes. «Das heisst nicht Genfersee, sondern Lac Léman», sagt Guy Ravet und hat dabei einen gewohnt sympathischen, aber doch bestimmten Ausdruck im Gesicht. Der Starchef vom Grand Hotel du Lac in Vevey hat uns zu einer kurzen Rundreise um den östlichen Teil des identitätsstiftenden Sees eingeladen und trifft uns zu Beginn im malerischen Weinbaudorf Épesses zu einem ersten Wegpunkt.
Winzer-Ikone. Ravet klingelt bei Blaise Duboux, einem der grossen Winzer im Lavaux, dessen Weingut vom GaultMillau 2023 als eins der besten 150 Weingüter der Schweiz ausgezeichnet worden ist. «Professor Tournesol» – bei uns bekannt als Professor Bienlein aus «Tim und Struppi» – nennt Ravet den sympathischen Mann im Weinbauer-Look mit kurzen Hosen, geländegängigem Schuhwerk und wachen Augen. In dem kleinen Bau vinifiziert Duboux seine Bioweine, mit Guy Ravet überprüft er das Reifestadium verschiedener Chardonnays und Chasselas, die in Fässern aus Schweizer Eichenholz ruhen. «Der Wein bleibt mindestens zwölf Monate im Fass, danach wird er direkt in Flaschen gefüllt», so der Winzer. «Aber mich interessiert nicht der Holzgeschmack, mir geht es um finessenreiche Weine», erklärt er seinen Ansatz. Es gebe zwar einen Markt für «Bodybuilder-Weine», wie er eher zu Breite und Fülle neigende Produkte nennt, und das sei völlig in Ordnung. «Das ist einfach nicht das, was ich will», sagt Duboux.
Naturwein aus der Glas-Amphore. Der Romand verdient sich die liebevolle Beschreibung als verrückter Professor auch mit seiner Freude am Experiment. Eben hat er mit einem neuartigen Flaschenverschluss aus Kunststoff und Kork herumgepröbelt, den Versuch aber als unbefriedigend erklärt. Nun zieht er eine Art schwarzen Stumpf von einer mächtigen Glasamphore, in der sich ein weiterer Probelauf verbirgt: Im sogenannten Wineglobe, einem riesigen handgemachten Glasgefäss, befindet sich ein ungefilterter Naturwein-Chasselas, der in der hermetisch abgeschlossenen Sphäre des Glases eine erstaunliche Klarheit, aber zu wenig Geschmack erlangt hat, wie der forschende Winzer feststellt: «Mein Ziel war es, den möglichst puren Geschmack des Terroirs – Sand, Kiesel, Gestein und wenig Erde – herauszuarbeiten. Aber ohne Sauerstoff entsteht ein sehr ungewöhnliches Aroma, das man von einem Wein nicht erwartet.»
Hinauf in die Hügel. Nach der erstaunlichen Erfahrung im Keller steigt der 17-Punkte-Koch in seinen Mercedes-Benz GLC 300 e mit den elegant fliessenden Formen eines Coupés. Lautlos rollt der Plug-in-Hybrid von Épesses hinaus auf die Hügel. «Dank der ausreichend grossen Batterie konnte ich mühelos nur mit dem elektrischen Antrieb von zu Hause in Vufflens-le-Château bis hierher fahren», sagt Ravet. Jetzt rücken die zum Unesco-Weltkulturerbe gehörenden Weinberge ins Bild. Sie scheinen um die steile Hügellandschaft gelegt wie tiefgrüne Stoffbänder um eine weiche organische Form.
Wagyu-Embryos aus Japan. Das nächste Lac-Léman-Original, das uns der Koch vorstellen will, ist Rinderzüchter Mathieu Balsiger in St-Légier. Der Bauer ist eine freundliche und eindrucksvolle Erscheinung, 200 Limousin-Kühe hält er auf seinem Hof und im Sommer auf 1000 Metern auf der Alp in der Nähe seines Guts. «Ich mag den genügsamen Charakter dieser Tiere, und sie sind durch ihre nicht zu üppige Grösse gut geeignet für die Berge», sagt Balsiger. Aber letztlich habe er sich aus ästhetischen Gründen für Limousin-Rinder entschieden: «Mir gefallen die rotbraune Farbe und die weiss ‹geschminkten› Augen und Mäuler.» Trotzdem hat Balsiger auch einen Versuch mit Wagyu-Rindern unternommen und für rund 100 000 Franken zwölf Embryos aus Japan eingekauft. Nur drei davon sind allerdings zu stolzen Tieren herangewachsen, die am tiefschwarzen, glänzenden Fell erkennbar sind.
Tatar und Burger. Was aus dem Wagyu-Experiment wird, ist noch unklar. Guy Ravet nutzt weiterhin das magere Limousin-Fleisch für zwei Gerichte, die konsequent aus verschiedenen Teilen der Tiere aus St-Légier für das Grand Hotel du Lac hergestellt werden: «Aus der Huft schneiden wir Tatar und aus fettreicheren Stücken unsere Hamburger. Ich mag den Gedanken, dass diese zwei Gerichte mit Fleisch aus der unmittelbaren Region zubereitet werden können. Meistens ist das ja wegen der benötigten Mengen gar nicht möglich», so der Starchef.
In der ersten Reihe. Zwar ist auch vom Bauernhof aus der weit unten im Tal liegende Lac Léman zu sehen, aber am Ende dieser Fahrt durch die umliegenden Hügel sitzen wir gewissermassen in der ersten Reihe. Matthieu Brunos Restaurant in Chardonne heisst nicht «zur schönen Aussicht», aber man hat sie zweifellos vom Balkon seines «La-Hàut» (16 Punkte). Bruno gehört zum Vorstand der Vereinigung Les Grandes Tables Suisses, die Guy Ravet präsidiert. Seinem Kochkollegen serviert Bruno als Freundschaftsgeste Gerichte mit sorgfältig komponierter Ästhetik. Man kann sie durchaus als Metapher sehen für manches, was in und auf der Erde um das Lavaux entsteht. Oder dafür, was möglich ist, wenn Mensch und Natur sich kongenial ergänzen.