Fotos: Andrea Furger
Viki Geunes, wie sind Sie überhaupt Koch geworden?
Mein Vater hat sich gewünscht, dass ich Ingenieur werde. Er war für ein grosses Industrieunternehmen tätig, und zuerst wollte ich ihm den Gefallen machen. Ich habe ein Studium begonnen, um in seine Fussstapfen zu treten…
…Aber?
Gleichzeitig mochte ich immer schon die Ausstrahlung eines gedeckten Tisches. Meine Mutter hat immer frisch gekocht und diese Momente, mit der Familie beim Essen zu sitzen, haben immer eine grosse Zufriedenheit in mir ausgelöst. Als Student habe ich ausserdem in Bars gearbeitet, dann im Service in Restaurants.
Und wann haben Sie Ihre Karrierepläne endgültig geändert?
Als 21-Jähriger habe ich mein Studium abgebrochen und in einem einfachen Restaurant als Praktikant angefangen. Dabei ging es um sehr grundlegende Fragen, etwa den Unterschied zwischen einer Ente und einer Wachtel zu lernen. Ich wollte aber, dass meine Eltern stolz auf mich sein können und habe Ihnen versprochen, wenn ich schon kein Ingenieur werden sollte, dann dafür ein sehr guter Koch.
Wie sind Sie dieses Ziel angegangen?
Ich habe viel gelesen, jedes Kochbuch von Paul Bocuse, Marc Veyrat – alles, was mir in die Finger gekommen ist. Meine Strategie war, herauszufinden, was die Stärke des jeweiligen Kochs ist, und dies für mich zu übernehmen.
Was haben Sie von Bocuse gelernt?
Von Bocuse habe ich klassische Tugenden übernommen: Wie macht man eine perfekte Beurre Blanc? Es geht um kleine Dinge und Nuancen. Die Schalotten müssen zum Beispiel karamellisiert sein, damit ein Kontrast zur Säure des Weins entsteht. Als Koch muss man verstehen, was in der Pfanne abläuft. Ein Gericht auf Pinterest oder Instagram zu sehen und optisch perfekt zu kopieren, reicht nicht.
Sie haben nie eine klassische Ausbildung gemacht, warum hat es trotzdem geklappt?
Ich habe einen Weg gefunden, der für mich funktioniert hat. Zuerst habe ich versucht, die Grundlagen zu verstehen, um auf dieser Basis meine eigenen Ideen und Kombinationen zu finden.
Rund 30 Jahre nachdem Sie diesen Weg eingeschlagen haben: Was ist heute ein gutes Gericht in Ihren Augen?
Ein gutes Gericht mag heute perfekt sein, aber morgen vielleicht schon nicht mehr. Die Ideen vom Kochen wandeln sich, die Gäste ändern sich. Miso oder Sojasauce zu verwenden, war vor 15 Jahren noch verrückt, heute ist es verbreitet. In meinen Gerichten suche ich nach Harmonie, aber gleichzeitig braucht es Kontraste. Das Wichtigste für mich ist aber das Produkt, ich arbeite gerne mit Langustinen, Artischocken oder Muscheln.
Wie bereitet man eine Langustine perfekt zu?
Indem man sie kurz genug gart, so dass sie gerade etwas Temperatur bekommt. Dann geben wir ihr ganz kurz über Holzkohle etwas Raucharoma. Wenn wir sie lebend bekommen, machen wir auch gerne ein rohes Tatar daraus. Das Schälen ist dann zwar etwas mühsam, aber wenn man sie kurz einfriert, klappt es.
Wurden Sie als Autodidakt von Ihren Kollegen eigentlich respektiert?
Ich war schon lange Zeit der Underdog, man hat auf mich herabgeschaut. Als 2004 der erste Stern kam, hat es angefangen zu drehen. Und als wir 2008 den zweiten bekommen haben, war die Sache dann geklärt.
Schon 2009 waren Sie Koch des Jahres im GaultMillau, aber bis zum dritten Stern dauerte es bis 2021. Was ist in dieser langen Zeit passiert?
Wir haben irgendwann unser Restaurant Zilte umgebaut und optimiert, und uns damals auch sehr intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, was die Gäste heute von einem hochstehenden Essen erwarten.
Zu welchen Erkenntnissen sind sie gekommen?
Der Schlüssel zu allem ist die Gastfreundschaft. Ein «Nein» existiert bei uns nicht. Jeder Gast ist anders. Man muss ein Gefühl für die Leute entwickeln, damit ein Erlebnis geboten werden kann, als würde jemand nicht in einem Restaurant sitzen, sondern ein privates Dinner geniessen. Gastronomie ist ein wenig wie ein Theater, es braucht viel Training und Übung von den Beteiligten. Service bedeutet nicht, bloss Teller von A nach B zu tragen. Im Service braucht es kluge Leute mit Lebenserfahrung und kultureller Bildung. Sie müssen selbst reisen und gerne Essen gehen, um mit den Gästen in einen Dialog treten zu können.
Und wie finden Sie diese Leute?
Ich habe zum Glück meine Tochter im Unternehmen, ihr zukünftiger Mann ist unser Sommelier und meine Frau ist ebenfalls dabei. So können wir uns darauf konzentrieren, die Werte eines Familienunternehmens weiterzugeben. Meine Tochter kommt aus der Kommunikation und dem Event Management, sie wollte eigentlich nie in der Gastronomie arbeiten. Aber sie kennt diese Welt, weil sie mit uns Essen gegangen ist, seit sie fünf Jahre alt war. Wenn die richtigen Leute am richtigen Ort eingesetzt sind, entsteht Konstanz und immer mehr Fortschritt. Das hat uns zufrieden gemacht und die Gäste natürlich auch. So haben wir uns immer weiterentwickelt.
War der dritte Stern eine Erleichterung oder entstand dadurch mehr Druck?
Es ist natürlich beides. Aber ich habe heute die Selbstsicherheit, dass ich einigermassen weiss, was ich tue. Und ich habe die Bestätigung, dass es funktioniert.
Wie wird man als Koch immer noch etwas besser?
Disziplin und Selbstkritik sind etwas vom Wichtigsten, wenn man wachsen will. Und wenn das Team sieht, dass man die Dinge vor allem für einen selbst aus Überzeugung macht, werden sie folgen. Es geht letztlich nicht ums Kochen, wir definieren eine Art, wie wir leben und arbeiten wollen.
Welche Prinzipien gelten in Ihrer Küche?
Die Etiketten auf unseren Vakuumbeuteln sind zum Beispiel immer am exakt gleichen Ort oben links angebracht. Wir verwenden eine bestimmte Schürze für die Vorbereitungsarbeiten und eine für die Servicezeit. Die Art, wie wir die Schürze zusammenrollen, ist immer dieselbe. Das mag zunächst lächerlich klingen, aber mit der Zeit wird es selbstverständlich. Und wenn man solche Grundlagen beherrscht, kann man weitergehen und wachsen. Manche sagen, ich sei ein Autist…
Und, sind Sie es?
Vielleicht habe ich autistische Züge. Ich mag es einfach, wenn in meinem Kühlschrank Ordnung herrscht, und ich sofort alles finde. Meine Hosen im Schrank hängen nach Farben geordnet und ein Fleck auf meiner Kleidung kann mich verrückt machen. Aber wenn man strukturiert ist, kommt man schneller ans Ziel.
>> Viki Geunes (Jahrgang 1972) ist Chef des Restaurants Zilte in Antwerpen (18,5 GaultMillau-Punkte, drei Michelin-Sterne). Noch bis zum 3. Februar 2023 kocht Geunes am 30. St. Moritz Gourmet Festival.