Text: David Schnapp | Fotos: Joan Minder
Schwedische Melancholie. Wie schwere Daunendecken legen sich weisse Wolken und Nebelschwaden über das Engelbergertal und sorgen für eine atmosphärische, leicht melancholische Stimmung auf 1200 Metern über Meer. Ebendort – im Boutique-Mountainscape «Villa Hundert» – schaffen seit einigen Monaten Christian Brangenfeldt als Frontmann und John Jezewskiin in der kleinen Küche ein – nicht nur für Engelberg – einmaliges Erlebnis aus sehr persönlicher Gastfreundschaft und Forschergeist am Herd. Jetzt sitzen die beiden an einem kleinen Tisch zwischen Küche und Gastraum und finden lachend, die verhangene Melancholie passe doch ganz gut zu ihrer schwedischen Herkunft, nordische Mystik in einem weltbekannten Schweizer Bergdorf sozusagen. Hier stellt sich gleich die offensichtliche Frage, was denn überhaupt zwei Schweden in ein Gasthaus im relativen Nirgendwo in Obwalden verschlägt.
Partys, Snowboard, Küche. Die Geschichte ist schnell erzählt: Beide sind passionierte Snowboarder – und Engelberg hat in Schweden einen ausgezeichneten Ruf als Freeride-Paradies. «Ich wollte immer schon eine Saison lang in den Bergen arbeiten», sagt der 32-jährige John Jezewski. So sei er vor einigen Jahren nach Engelberg gekommen: «2018 packte ich meine Messer und fing in der ‹Ski Lodge› an. Das war eine intensive Saison zwischen Partys, Snowboarden und Küche», sagt der Koch mit dem lustigen Schnauzer. Als Verstärkung in der Küche gebraucht wurde, rief John seinen Freund Christian Brangenfeldt an; man kennt sich aus Stockholm, wo Christian Manager der Band war, in der John mitspielte. Brangenfeldt hat einen Bachelor in Business Administration erworben, «um meine Eltern glücklich zu machen»,wie er sagt. «Aber dann bin ich meinem Herzen gefolgt und habe ein Naturwein-Hotel im Süden von Schweden geführt.»
Wie in einer Ehe. Mit der «Villa Hundert», für die die Besitzer ein neues Konzept und neue Betreiber suchten, ist für das Schwedenduo «ein Traum in Erfüllung gegangen», wie sie glaubhaft versichern. Im September 2022 erfolgte die Schlüsselübergabe, und wie in einer Ehe seien die Flitterwochen nun vorbei: «Jetzt geht es darum, den Alltag zusammen zu gestalten», so Christian Brangenfeldt. Er selbst kümmert sich morgens um das Check-out der Übernachtungsgäste, um die Reinigung und die Buchhaltung. John Jezewski übernimmt die Rolle des feinfühligen Kreativen in der Küche. Er entwirft die Menüs: «Das ist ein langwieriger, harter Prozess», sagt er. «Die meiste Arbeit macht John, ich füge bloss meinen Input hinzu, den er dann in der Regel aber ignoriert.»
Auf Anhieb 14 Punkte. Als flüchtiger Besucher stellt man es sich ziemlich herausfordernd vor, in dieser alpinen Einsamkeit kreativ zu sein, Gäste zu bewirten und ein funktionierendes gastronomisches Betriebskonzept auf die Beine zu stellen. Bis jetzt scheint es dem Duo aber ziemlich gut zu gelingen, vom GaultMillau hat es nach kurzer Zeit und auf Anhieb 14 Punkte gegeben: «Beeindruckend, wie schnell die beiden Schweden die besten Produzenten der Gegend gefunden haben», notieren die Tester.
Wild und unangepasst. «Wir kennen uns seit über zehn Jahren, und wir werden zusammen immer besser. Unsere Kommunikation hat sich sehr zum Guten entwickelt», nennt Christian einen der Gründe, die ein Erfolgsrezept für jede funktionierende Ehe sind – und für zwei Gastronomen mit einem Hang zur wilden Rockstar-Attitüde. Wobei damit nicht unbedingt Allüren gemeint sind, es ist vielmehr eine sympathisch wilde, unangepasste Seite. Auf Spaziergängen im Wald suchen die jungen Männer nicht nur Beeren, Kräuter, Pilze und andere wildwachsende Zutaten für ihre Menüs. «Auch die meisten Sitzungen halten wir in der Natur ab», so Christian Brangenfeldt. Den Küchentisch haben sie mittlerweile verlassen, mitten im Wald wird jetzt Sauerklee gepflückt, und wie kleine Jungs rennen die beiden einen steilen Abhang zwischen den Bäumen und durch das dichte Herbstlaub hinunter – sie wollen offenbar nur spielen.
Naturverbundene Küche. Das in der «New Nordic Cuisine» weitverbreitete «Foraging», die Suche nach wilden Zutaten, ist so gesehen ein spielerischer Bestandteil von John Jezewskis Küche: «Die Basis unserer Arbeit ist die ‹New Nordic Cuisine›, meine Vorstellung vom Kochen ist verbunden mit der Natur und damit, was zu sehen ist, wenn ich aus dem Fenster schaue.» Die Broccoli-Blätter, die Jezewski zu einem hochästhetischen Gericht arrangiert, sammeln die beiden zwar nicht im Engelberger Wald, dafür haben sie Zugang erhalten zu einem Gemüsefeld des Bio-Hofs Wydacher in Oberdorf bei Stans. Zum Blatt gibt es eine Wollschweinemulsion, eine Kräuterinfusion mit Hühnerfett, Emmen-Shrimps und unreife Erdbeeren. «Die Idee war, ein Blatt zu präsentieren, das vegetarisch aussieht, aber letztlich sehr tierisch ist. Ich verwende gern tierische Fette als Würzmittel – fast lieber, als das Fleisch selbst zu servieren», erklärt der Koch. Milch von Nachbar Noldi Matter, der auf seinem Familienbetrieb neben der «Villa Hundert» Kühe hält, gibt es als Dessert. Auch hier machen die selbstgesammelten und fermentierten Blaubeeren den aromatischen Unterschied aus, der diesen eigenwilligen, aber gelungenen Kochstil wie die logische Folge eines mystisch-wolkigen Tags in Engelberg aussehen lässt.