Text: David Schnapp | Fotos: Joan Minder
Vor dem Service. Am Küchentisch des Restaurants Truube in Gais sitzen mittags vor dem Service Silvia und Thomas Manser, ihr ältester Sohn Dominik, Entremetier Rico Gantner, Patissier Guillaume Hadey und die beiden Lehrlinge Noe Enzler und Jan Sieber. Letzterer hat für Team und Familie Kalbshaxen geschmort, dazu gibt es grüne Spargeln und einen ausgezeichneten Safranrisotto. «Ich achte darauf, dass die Lehrlinge klassische Zubereitungen wie das Schmoren beherrschen», erklärt Silvia Manser.
Arbeitende Mutter. Team und Familie sind im System Manser durch fliessende Übergänge miteinander verbunden. «Fünf Tage nach der Geburt unserer heute 14-jährigen Tochter stand ich wieder in der Küche, und die Kleine lag in ihrer Wippe auf dem Küchentisch», erzählt die Appenzeller Köchin. Oder sie habe das Babyphon in der Küche aufgestellt, und auch wenn die Leuchtanzeige immer heftiger ausgeschlagen habe, mussten erst die Hauptgänge zu den Gästen, bevor für die arbeitende Mutter Zeit war, ihr Kind in der Wohnung über dem Restaurant zu stillen.
Keine Hierarchie. In unmittelbarer Nachbarschaft zur «Truube» leben zwei ihrer Schwestern und auch ihre Mutter. «Ich mag es, wenn es harmonisch ist. Wenn man einen so kleinen Betrieb hat, geht es nicht anders als auf familiäre Art. Ich möchte auch keine Hierarchien – jeder soll sich hier einbringen können», beschreibt die 47-Jährige ihren Führungsstil. Die Idee der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit sollte man aber nicht verwechseln mit Beliebigkeit. «Am Ende entscheide ich, und es gibt Momente, wo man hört, dass ich die Chefin bin. Wenn mir etwas nicht passt, mache ich das deutlich», sagt Silvia Manser. Sie wirkt dabei offen und freundlich, sodass am Wahrheitsgehalt dieser Selbstbeschreibung nicht die kleinsten Zweifel aufkommen.
Im Gleichschritt. Erstaunlich – zumindest für die meisten Aussenstehenden – ist auch die Tatsache, dass Silvia Manser und ihr Mann Thomas seit 24 Jahren Leben, Arbeit und Freizeit – 6000 Rennvelo-Kilometer pro Jahr – in selten gesehenem Gleichschritt teilen. Der gelernte Landwirt Thomas Manser hat sich nach der Übernahme der «Truube» von Silvia Mansers Eltern im Jahr 2001 zum Sommelier weitergebildet und ist heute ein kluger, umsichtiger Berater für die Gäste am Tisch, wenn es um die Wahl des passenden Weins geht.
Köchin & Sommelier. Selbst hier herrscht Einklang: Silvia Mansers Gerichte haben oft eine feine, fruchtbetonte Säurenote, Thomas kombiniert genau dazu Weine, «die nicht zu fett sein dürfen», wie er es formuliert. Sein Sommelier-Credo ist leicht verständlich, «die alte Welt und die Schweiz» liegen im Keller. Weine zum Essen, findet Thomas Manser, müssen «fein und elegant» sein. Auch in der Feinabstimmung zwischen Gerichten und Getränken tauschen sich die Frau am Herd und ihr Mann für den Wein regelmässig aus. «Ich gebe ihm die Teller zum Probieren und lege Wert auf seine Einschätzung», sagt Silvia Manser. Die beiden engagieren sich auch bei der Vereinigung Jeunes Restaurateurs (JRE). Die Anlässe der munteren Vereinigung selbständiger Gastronomen besucht das Ehepaar Manser natürlich ebenfalls gemeinsam.
Farbiger Faden. Durch die Gerichte der mit 16-GaultMillau-Punkten und einem Michelin-Stern ausgezeichneten Köchin zieht sich wie ein kontrastierender farbiger Faden eine subtil dosierte Note von Exotik. Als bräuchte die scheinbar vollkommene Harmonie eine Art von Gegengewicht, als fordere das Yin der Heimatverbundenheit auch ein Yang des leisen Fernwehs. Kombiniert wird etwa Thunfisch mit Passionsfrucht, die fruchtige Säure von Ananas zum Kabeljau-Ceviche mit eingelegten Zwiebeln und Avocado oder ein Kalamansi-Koriander-Gel zum perfekt gebratenen Steinbutt mit Karotten und Couscous. «Ich bin schon für Heimatschutz, aber das heisst für mich nicht, in der Küche auf sämtliche Produkte von ausserhalb zu verzichten», sagt Silvia Manser über ihre Vorstellung des guten Geschmacks.
Weltmeister aus Lichtensteig. Aus der Nähe jedoch kommen aber selbstverständlich Milch- und Käseprodukte, für die Silvia Manser morgens mit dem Auto über den Wasserfluh-Pass fährt, um bei Spitzenkäser Willi Schmid in Lichtensteig einzukaufen. Der 54-Jährige gehört in seiner Disziplin zu den Besten der Schweiz, bisweilen sogar zu den Besten der Welt. Sein berühmter «Jersey Blue» wurde mehrfach mit der Goldmedaille an der Käse-Weltmeisterschaft ausgezeichnet. Der Blauschimmelkäse aus Milch von Jersey-Kühen sowie andere Produkte aus Schmids «Stadtchäsi» finden in vielen Schweizer Spitzenrestaurants Verwendung.
Gespür für Bakterien. Er wolle «immer etwas besser sein als die anderen», sagt Schmid über seine Arbeitsmoral, aber dass er heute Käse macht, war eher ein Zufall. «Ich wäre gerne Bauer geworden, konnte mir aber keinen Hof leisten», erzählt er. Der freundliche Toggenburger, dem immer ein listiges Lächeln um die Augen flackert, hat dann zum Glück sein Gespür für Bakterien, positiv aufgeladenes Milcheiweiss und andere alchemistische Gesetze der Milchfermentation entdeckt. 2006 übernahm er die Käserei im Kleinstädtchen Lichtensteig SG.
Sonderwünsche. Für Silvia Manser stellt Schmid exklusiv einen Ricotta her. Gegenseitige Sympathie ist die Voraussetzung dafür, dass der eigenwillige Käser Sonderwünsche von Köchen erfüllt. «Und wenn es nicht besser ist als das, was es schon gibt, mache ich es nicht», sagt er. So hat Willi Schmid zum Beispiel auch angefangen, aus der Jersey-Milch Butter herzustellen, weil ihn die meisten Schweizer Produkte nicht überzeugt haben und weil «es mir der ‹Grind› nicht zuliess, französische Butter zu essen».
Offene Stalltüren. Eigenwilligkeit und eine starke Überzeugung für die eigenen Ideen treiben – wieder zurück in Gais – auch den 38-jährigen Landwirt Tobias Koster an. Mit seiner Streichelfarm in Gais und offenen Stalltüren will er Einheimischen und Touristen zeigen, dass es bei seiner Art von Rinderzucht nichts zu verstecken gibt. «Ich setze auf Mutterkuhhaltung und gebe meinen Tieren nur Futter aus eigenem Anbau zu fressen», erklärt der Bauer mit Bart, Tattoos und Piercings. Freundliches Grauvieh und einige ausgeglichene Wagyu-Rinder grasen auf seinen Weiden. Er wolle nur Tiere mit einem ruhigen Charakter, sagt er.
«Weg vom Massenprodukt.» In Zusammenarbeit mit Metzger Philip Fässler werden Kosters Rinder auf dem Hof möglichst schonend und stressfrei betäubt und getötet. Eine präzis abgestimmte Logistik sorgt dafür, dass innerhalb von höchstens 45 Minuten die Innereien im neuen, modernen Schlachtbetrieb in Appenzell entnommen werden können. Unter dem Label «Appenzeller Beef» wird das hervorragende Fleisch vermarktet. Fässler ist überzeugt, dass Fleisch «weg vom Massenprodukt» positioniert werden muss.
Innere Balance. Beim Betrachten der steilen grünen Hügel in dieser wohl herausfordernden, aber gleichzeitig anmutigen Landschaft, der neugierigen Kühe, die mit gleichmässig schwerem Atem an den auswärtigen Besuchern schnuppern, der Alpsteinkette, die sich als beruhigende Konstante am Horizont erhebt, erfasst einen wie von selbst diese irgendwie eigenwillige Appenzeller Harmonie der Natur. Und in diesem Zustand der inneren Balance lässt sich ganz gut verstehen, wo die Methode Manser ihre Wurzeln hat und warum sich Silvia Manser gerade hier zu einer aussergewöhnlichen Köchin entwickeln konnte.