Text: David Schnapp Fotos: HO
Sie sind in Kalkutta aufgewachsen und haben eine erstaunliche Karriere gemacht. Wie würden Sie Ihren Lebensentwurf jemandem beschreiben, der noch nie von Ihnen gehört hat?
Ich gehöre zu den Leuten, die realisiert haben, dass wenn sie nicht das volle Leben suchen, sie ihre Chance vertan haben. Wenn ich nicht immer alles geben würde, wäre ich ein Niemand geblieben. Mittelmässigkeit hat mich nie interessiert, ich wollte aussergewöhnlich sein.
Sie haben Recht studiert und sind zufällig in die Gastronomie geraten. Wären Sie als Anwältin oder Richterin Ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden?
Das wäre zu einfach gewesen. Ich habe studiert, um meine Eltern glücklich zu machen. In asiatischen Kulturen – wie in vielen anderen Kulturen auch – ist ein guter, ehrbarer Beruf wichtig. Besonders in Einwandererkreisen; wir sind ja aus Indien nach England ausgewandert. Ich wollte also anders sein, aber nicht auf eine rebellische Art, sondern indem ich etwas Besonderes mache. Ich will nicht, dass das arrogant klingt, aber es ging mir darum, jemand zu sein von dem die Leute sagen, «sie hat ihrer Familie Ehre gemacht». Im unserer Kultur erwartet man das nicht von Mädchen.
Können Sie das erklären?
In Indien ist es hart, ein Mädchen zu sein. Es ist eine konservative, patriarchische Gesellschaft. In den meisten Familien erwartet man, dass die Mädchen gut heiraten, was einen wiederum viel Geld kostet. Das Land in unserer landwirtschaftlich geprägten Kultur wurde immer den Jungen übertragen. Die Mädchen waren also bloss ein Kostenfaktor.
Ist es nicht etwas paradox, wenn man als Frau etwas Besonderes werden will und dann ausgerechnet in der Küche landet?
Das ist so. Was mich aber auch beschäftigt hat, war die Tatsache, dass die Frauen in meiner Kultur, die immer gekocht haben, nie dafür respektiert wurden. Oft ist es so, dass die Frauen in der Küche stehen, das Essen für die Jungen und Männer zubereiten und dann selbst essen, was übrig bleibt. Die Frauen haben oft nicht einmal das Vergnügen, mit den Männern an einem Tisch zu sitzen. Sogar unser Essen ist patriarchalisch: Es gibt nicht ein Brot, das für alle auf den Tisch kommt. Unser Fladenbrot Roti wird einzeln zubereitet – von der Frau in der Küche für die Männer, die am Tisch sitzen.
Deshalb haben Sie Kochen als Beruf gewählt?
Das ist eine sehr gute Frage, die mir tatsächlich noch nie jemand gestellt hat. Mit dem, was ich mache, möchte ich auch alle jene Frauen ehren, die gestorben sind im Glauben, dass Sie keinerlei besonderen Fähigkeiten haben. Wenn ich Astronautin geworden und auf den Mond geflogen wäre, hätte ich viel Anerkennung erhalten. Mir ging es aber darum, gegen eine unfaire Gesellschaft anzukämpfen, die Frauen unterdrückt. In Indien, Bangladesch, Pakistan kochen zu Hause immer die Frauen, in Restaurantküchen aber stehen nur Männer.
Haben Sie selbst je in einer klassischen Restaurantküche gearbeitet?
Nein, weil eine Restaurantküche nach französischem Vorbild auf militärischen Hierarchien aufgebaut ist. So arbeiten Männer. In der Küche meines «Darjeeling Express» arbeiten nur Frauen, und jede erhält den gleichen Lohn, mich inbegriffen. Ich erhalte gleich viel wie die Frau, welche das Geschirr spült. Oft erhält sie sogar mehr, weil sie längere Präsenzzeiten hat. Den Leuten gefällt es in meinem Restaurant auch, weil in der Küche niemand spricht. Niemand gibt Anweisungen. Jede erfüllt ihre Aufgabe und am Ende gibt es ein Gericht. Es ist wie Synchronschwimmen. Es ist, als würde ich neben meiner Mutter und Grossmutter in der Küche stehe. Es gibt übrigens auch keine geschriebenen Rezepte. Wenn man aus dem Herzen kocht, braucht es keine Erklärung. Man kann das Essen fühlen, riechen, berühren.
Aber Sie schreiben ja auch erfolgreich Kochbücher?
Ich habe immer zwei Arten von Rezepten: die einen beinhalten Mengen- und Zeitangaben, die andern beschreiben, wie etwas riechen oder aussehen sollte. Ist es weich, ist es hart, krümelig… Selbst Teil eines Rezepts zu werden, ist das Wertvollste, was ich als Köchin geben kann. Dann wird mein Gericht so einzigartig wie ein Fingerabdruck.
Kochen Sie, wie Sie es tun, weil Sie eine Frau sind, oder weil Sie Asma Khan sind?
Es hat nichts mit mir als Frau zu tun, sondern weil ich mich so wohlfühle. In meiner Küche arbeiten keine gelernten Köchinnen. Sie waren Kindermädchen oder Reinigungskräfte und kamen zu meinen privaten Essen bei mir zu Hause. Die meisten kenne ich seit zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren.
Es geht also nicht um Genderfragen sondern um Persönlichkeit?
Es geht um Persönlichkeit, aber auch um Intuition und Rhythmus. Die meisten Männer, die in indischen Restaurants kochen, haben das auf einer Kochschule gelernt. Denn Buben gehören bei uns nicht in die Küche. Es fehlt ihnen also schlicht das Gefühl für ein gutes Garam Masala. Sie kennen diesen nussigen, nur leicht verbrannten Geruch nicht, den die Gewürzmischung haben sollte, wenn man sie röstet.
Ist Kochen vergleichbar mit dem Erlernen einer Sprache?
Genau, Sie können das ganz natürlich als Kind lernen oder später in einer Schule. Am Ende sprechen Sie mit beiden Methoden fliessend, aber es fehlt die Seele. Ich weiss nicht, wie es ist, in einer professionellen Chromstahlküche mit allen Ressourcen zu kochen. Wir brauchen keine Geräte, wir wissen nicht, wie man sie nutzt. Wir machen alles von Hand, kochen auf Gas.
Wie wollen Sie das machen, wenn Sie am St. Moritz Gourmetfestival in einer grossen Hotelküche arbeiten müssen?
Das wird sein wie die Erfindung der Glühlampe (lacht). Ich werde auf jeden Fall üben müssen, auf Induktion zu kochen. Wir sind Instinktköchinnen. Es fragt nie eine, «wie lange braucht das Ragout, bis es gar ist?». Es braucht so lange, wie es braucht. Man muss einfach wissen, wann es genug ist.
Einige Ihrer Gerichte gehen auf mittelalterliche Traditionen zurück. Wie kann man in einer modernen Welt kochen wie im Mittelalter, und macht das überhaupt Sinn?
Ich habe schon auf offenem Feuer in den Bergen von Marokko gekocht oder in modernem High-Tech-Umfeld. Das Gericht hat gleich gut geschmeckt. Es ist nicht die Küche, es ist der Koch. Ich mache den Unterschied. Wenn ich koche, spüre ich die Verbindung zu meiner Grossmutter, zu meiner ganzen Familie.
Kochen mit allen Sinnen?
Ja, es ist fast wie Meditation oder wie ein Gebet. Sie müssen verstehen: In unserer Kultur ist Essen die einzige Möglichkeit für eine Frau, Ihrer Liebe Ausdruck zu verleihen. Männer und Frauen kommunizieren kaum, verbringen keine Zeit miteinander. Indem ich für jemanden koche, kann ich ihn umarmen, ohne das physisch tun zu müssen.
Aber wie überträgt man das auf ein Restaurant?
Ich versuche, genau dieses Gefühl zu vermitteln. Ich bringe das Essen an jeden Tisch, ich erkläre und wische ab. Es geht gar nicht so sehr ums Kochen, ich möchte vielmehr sehen, wie die Leute mein Essen geniessen.
In vielen Restaurants heute geht um Geschichten statt ums Essen. Wie ist das bei Ihnen?
Wir erklären unsere Gerichte nicht. Viele wollen auch gar nichts hören, sie wollen geniessen und wieder gehen. Andere stellen natürlich Fragen: Viele meiner Gerichte haben sie noch nie gesehen. Sie können sie auch nicht googlen weil es keine verbreitete indische Küche ist sondern Zubereitungen aus den Palästen meiner Vorfahren. Ich stamme aus einer königlichen Familie, was keine grosse Bedeutung mehr hat, aber in jedem Palast gab es eine spezifische Küche.
Gibt es nicht ein Problem mit indischer Küche, weil sie oft nicht besonders authentisch ist?
Sie können in einer modernen Küche eigentlich gar nicht authentisch indisch kochen, wenn alles gekühlt und vorbereitet ist. Wegen der Hitze und der oftmals fehlenden oder ausfallenden Elektrizität, wird in Indien immer frisch gekocht. Im Gefrierer meines Restaurants hat es Eiscreme und Erbsen, mehr nicht. Alles andere wird mittags und abends immer frisch gekocht.
Welches sind eigentlich die Parameter Ihres Restaurants?
Unser Menü umfasst fünf Gerichte, wir haben Platz für 55 Gäste und sind sechs bis acht Leute in einer sehr sehr kleinen Küche.
Und was können die Gäste am Gourmetfestival in St. Moritz erwarten?
Ich möchte Essen kochen, das wie eine Umarmung ist. Ich möchte eine Brücke zwischen den Kulturen bauen. Wenn jemand meine Gerichte isst, hat er mich verstanden. Ich werde zum Beispiel ein Aprikosen-Dessert zubereiten, das aus dem Palast meines Onkels stammt. Die Früchte aus Afghanistan werden geschmort und wurden so nur in diesem Palast zubereitet. Ich füge nichts hinzu, aber man kann die Sonne spüren und die Erde, in welcher der Baum gewachsen ist. Dann bringe das günstigste Hausfrauengericht mit, das es gibt: gekochte, gehackte Randen mit Chili und Fenchel. Das gibt es nie in Restaurants, zeigt aber wunderbar, wie Gewürze ihre Wirkung entfalten können.
>> Asma Khan, geb. 1969, ist Gastronomin und Kochbuchautorin und wurde für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet. Sie betreibt zwei Restaurants in London Soho. Ihr wurde in der sechsten Staffel der Netflix-Serie «Chef's Table» eine Folge gewidmet. Vom 4. bis 8. Februar 2020 kocht sie im Rahmen des St. Moritz Gourmetfestivals im Kulm Country Club. Sie ist eine von zehn Frauen, die als Gastköchinnen beim Festival teilnehmen.