Text: Elsbeth Hobmeier Fotos: Mischa Scherrer, Hans-Peter Siffert
«Essen würde nur stören.» «Nichts», sagte der junge Tancredi Biondi Santi bei einer Raritäten-Degustation auf dem Schloss Lenzburg auf die Frage, was er zu einer Brunello di Mon-talcino Riserva Vintage 1983 oder gar dem 1955er essen würde? «Nichts», wiederholte er, «jedes Essen würde hier nur stören. Diesen Wein geniesst man am besten mit einem reinen, frischen Gaumen und ohne jede Beeinflussung.» Okay, dachte man - und erwischte sich beim frevleri-schen Gedanken, dass man sich zu diesem feinen, eleganten, trotz seiner 35 Jahre voll präsenten 1983er sehr wohl ein nettes Bistecca fiorentina vorstellen könnte. Und dann lehnte man sich mit frischem reinem Gaumen und geschlossenen Augen zurück, sog die spektakulären Aromen des sagenumwobenen 1955ers in die Nase, liess den samtigen Wein über die Zunge fliessen, genoss den warmen, fast zärtlichen Nachhall - und begriff auch ohne viele Worte, weshalb der Wine Spectator genau diesen Wein zu einem der weltbesten zwölf Gewächse des 20. Jahrhunderts erkoren hatte.
Eine Familie von Pionieren. Es ist selten, dass eine berühmte Appellation auf eine einzige Familie zurückgeht. In Montalcino, im Herzen der Toscana, ist das so: Seit Jahrhunderten dreht sich in diesem Weinort alles um einen Namen: Biondi Santi. Vor sieben Generationen pflanzte der Urahne Clemente Santi als erster Winzer rote Sangiovese-Trauben – vorher wuchs in Montalcino einzig ein weisser Süsswein – und taufte diesen Wein Brunello. Sein Enkel zeigte sich nicht weniger innovativ, er schuf nach dem grossen Philoxera-Kahlschlag jenen Sangiovese-Grosso-Klon, der auch heute noch als Basis für den Brunello verwendet und auf dem Familienweingut «Tenuta Greppo» gepflegt wird. Es ist bis heute der einzige anerkannte Klon der Welt, der den Namen seines Produzenten trägt. Biondi Santi wurde damit zum Symbol italienischer Weinkultur.
Die 7. Generation am Start. Die Erfolgsgeschichte geht weiter, inzwischen ist mit dem 28-jährigen Tancredi Biondi Santi bereits die 7. Generation eingestiegen. Er studiert zurzeit Önologie in Italien, steht kurz vor seinen Prüfungen und präsentierte vor wenigen Tagen in Lenzburg eine Reihe von Brunello die Montalcino Riservas von 2011 bis zurück zum absolut raren 1955er. Am Degustationstisch verschiedene Weinprofis aus der Schweiz: Master of Wine Paul Liversedge, Daniela Wüthrich (Sommelière Victoria-Jungfrau, Interlaken) oder Albi von Felten («Hirschen», Erlinsbach SO).
Nur 36 Flaschen für die Schweiz. Rar ist eigentlich jeder Jahrgang. «Vom aktuell zum Verkauf stehenden 2006er kommen lediglich 36 Flaschen in die Schweiz», erklärte Importeur Andreas Etter von Jeroboam, der seit kurzem Biondi Santi in seinem Portfolio führt. «Und auch vom gewöhnlichen Rosso di Montalcino, der eben alles andere als gewöhnlich ist, können wir einzig 240 Flaschen anbieten.» Verkaufsaktionen müssen hier nicht gestartet werden, die Weine dürften ihm aus der Hand gerissen werden.
Bitte nicht dekantieren! In der spektakulären Vertikaldegustation zeigte sich eine wellenartige Entwicklung der Weine. Bei den Jahrgängen 2011 und 2006 fallen Aromen von Gewürzen, Pfeffer und Feuerstein auf – je älter der Wein wird, desto reifer und süsser übernehmen dann Kirschenaromen das Feld. Momentan eher in einem Wellental befindet sich der 1995er, während der 1983 sich auf einem absoluten Hoch zeigt. Geradezu andächtig öffnete Tancredi Biondi Santi den 1955er: «Es ist auch für mich ein grosser Moment, wenn ich einen Wein meines Urgrossvaters geniessen darf». Und er schärfte den anwesenden Sommeliers ein: «So alte Weine öffne ich maximal vier Stunden vor dem Genuss. Aber bitte nie dekantieren, sonst oxydieren sie auf der Stelle».