Text: Siméon Calame I Fotos: Jérôme Favre
Ein (fast) ganz normaler Tag mit der Familie. Ein Sonntag im April. Mikaël Grou verbringt einen ganz normalen Tag mit seiner Familie. Geniesst die Sonne mit Ehefrau Irene, spielt Fussball mit seinem dreijährigen Sohn Elliot. Dabei hätte der Chefsommelier des Genfer Hotels Beau-Rivage allen Grund zum Feiern: Am Vortag ist der 35-Jährige an der Hochschule für Weinbau und Önologie in Changins (VD) zum «Besten Sommelier der Schweiz» gekürt worden. Die gleichnamige, alle zwei Jahre stattfindende Veranstaltung wird von der Association des Sommeliers Professionnels Suisse (ASSP) in Zusammenarbeit mit der Branchenorganisation Swiss Wine organisiert. Die Freude Grous über den Triumph ist gross, ist es doch einer der wichtigsten Wettbewerbe für Weinfachmänner und -frauen hierzulande. Und es ist bei weitem nicht der erste, an dem er teilgenommen hat.
Spitzname «Poulidor». Der Spitzname von Mikaël Grou? Seine Freunde nennen ihn scherzhaft «Poulidor». Sie spielen damit an auf den populären französischen Radrennfahrer Raymond Poulidor, der zwischen 1962 und 1976 achtmal aufs Podium der Tour de France fuhr, allerdings ohne das wichtigste Etappenrennen der Welt ein einziges Mal zu gewinnen oder auch nur das Gelbe Trikot zu tragen. «Mein Übername kommt nicht von ungefähr», gibt Grou zu. War er doch im Jahr 2008 zweitbester Sommelier-Student im Loiretal; 2009 drittbester Sommelier Frankreichs; 2017 zweitbester Jungsommelier der Welt… Den Schritt aufs alleroberste Treppchen gelang ihm erst als bester junger Sommelier Australiens 2017!
Paolo Basso, Sommelier-Weltmeister von 2013 (und Mitglied der GaultMillau-Weinjury), gratuliert Mikaël Grou zum obersten Podestplatz.
Berufswunsch Sternekoch. Was vielleicht erstaunt: Wein war in seinem Elternhaus in Rennes eher selten in den Gläsern. «Nur zu ganz speziellen Gelegenheiten wurde daheim eine Flasche entkorkt», erinnert sich Mikaël Grou. Meist sei es dann ein Wein gewesen, den der Grossvater aus den Ferien mitgebracht habe. Die Önologie hat ihm am Ende ein gewisser Weinhändler namens Gilbert nähergebracht, ein enger Freund von Grous Mutter. Er nahm ihn in Restaurants der gehobenen Gastronomie mit. Daraus erwuchs der Berufswunsch «Sternekoch».
Begegnung mit Mathieu Croze. An der Hotelfachschule im französischen Dinard lachten die Lehrer darüber. Und trotzdem vertiefte sich Mikaël Grou in die Materie Wein: Besuchte Weingüter in der Loire, bekam eine Anstellung im Pariser «George V», wo er sieben Jahre lang blieb. Danach kamen seine Wanderjahre, er vervielfachte seine Erfahrungen zwischen Paris, Australien und London, bevor er 2019 vom «Beau-Rivage» in Genf kontaktiert wurde. Dort wurde er zu einem nahen Vertrauten von Küchenchef Mathieu Croze, der inzwischen fürs «Chat-Botté», ausgezeichnet mit aktuell 16 Punkten, verantwortlich zeichnet. Hier eignete er sich seine Kenntnisse über Schweizer Wein an. Was ihn 2021 das erste Mal an den eingangs erwähnten Wettbewerb des ASSP führte. Seine Platzierung nach zwei Tagen voller praktischer und theoretischer Prüfungen? Zweiter, natürlich!
Treue Seele, trotz Umbau des «Beau-Rivage»! Ein grosser Fan alkoholfreier Getränke («ausser Bier») ist er übrigens nicht. Er lässt sich höchstens mal eine schöne Tasse Tee servieren. «Weil es dort auch Terroir-Denken gibt. Und weil Tee ähnliche Tannine und Aromen zeigt wie Wein.» Auf die Frage, wie er sich nach dem diesjährigen Gewinn der Sommelier-Challenge gefühlt habe, antwortet er bescheiden, dass er vor allem an Gilbert und all die anderen gedacht habe, die ihn zum Wein hingeführt hätten. Auch an all seine Kollegen im «Beau-Rivage»! Und so denkt er nun – trotz des anstehenden anderthalbjährigen Umbaus des Swiss Deluxe Hotels – in keinster Weise daran, dem aktuellen Arbeitgeber untreu zu werden.